Zum Gebrauch von Kategorien in studentischen Äußerungen über Inklusion. Ein empirischer Beitrag zur Differenzforschung

On the use of categories in student utterances about inclusion. An empirical contribution to difference research

Autor/innen

  • Marian Laubner Georg-August-Universität Göttingen

DOI:

https://doi.org/10.21248/qfi.71

Schlagworte/Keywords

Differenzforschung, Diskursanalyse, Interviewforschung, Lehrer*innenbildung, De-/Kategorisierung, Difference Research, Discourse Analysis, Interview Research, Teacher Education, De-/Categorisations

Zusammenfassung

Kategorisierungen spielen im Schulalltag eine Rolle, der Einsatz und Gebrauch von Kategorien werden in der De-/Kategorisierungsdiskussion schon länger in Beztug auf ihre Effekte reflektiert. In der vorliegenden Studie wird auf Grundlage eines differenzierungstheoretischen Kategorienverständnisses gefragt, wie in studentischen Äußerungen nach einem Praktikum in als inklusiv bezeichneten Schulklassen welche Kategorien oder kategorialen - z. T. auch eigenwilligen - Bezeichnungen aktualisiert bzw. hervorgebracht werden und welche diskutsive Funktion dieser Kategoriengebrauch übernimmt. Auf Grundlage diskursanalytisch ausgewerteter Interviews werden im Ergebnis drei Figuren herausgearbeitet, die Schwierigkeiten in den Zuordnungen von Schüler*innen von Schüler*innen zu kategorialen Bezeichnungen zeigen. Indem von der Lehrkraft zur Verfügung gestelltes Wissen und eigene Beobachtungen geschildert werden, wird versucht, diese Schwierigkeit durch die Herstellung Eindeutigkeiten in Zuordnungen zu bearbeiten. Die Ergebnisse werden schließlich produktiv für Anschlüsse zur Thematisierung unterrichtlicher und schulischer Kategorisierungen und Differenzierungen in der Lehrer*innenbildung gewendet. 

 

Abstract

Categorisations play a role in everyday school life. But also the deployment and use of categories have long been reflected in the discussion on (de-)categorisation with regard to their effects. In the present study, on the basis of a difference-theoretical understanding of categories, it is asked in student utterances, how which categories or categorical – partly idiosyncratic – designations are produced after an internship in school classes designated as inclusive. Another focus was also what discursive function this use of categories assumes. On the basis of discourse-analytically evaluated interviews, three discursive figures are elaborated in the results, which show difficulties in the assignments of pupils to categorical designations. By describing the knowledge provided by the teacher and the teacher's own observations, an attempt is made to work on these difficulties by creating unambiguities in classifications. Finally, the results are used productively for connections to the thematization of classroom and school categorisations and differentiations in teacher education.

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Veröffentlicht

2022-02-17

Ausgabe

Rubrik

Allgemeiner Teil

Einleitung

Kategorisierungen im Zusammenhang mit sonderpädagogischen Förderbedarfen haben eine lange Tradition (Powell, 2003) und spielen auch vor dem Hintergrund ihrer Modifizierungen über die Zeit (Weisser, 2003⁠; 2017) im Zuge eines inklusiv zu gestaltenden Bildungssystems weiterhin eine bedeutende Rolle. Kategorien sonderpädagogischer Förderbedarfe werden z. B. in der statistischen Bildungsberichtserstattung zur Darstellung von Inklusions-, Exklusions- und Förderquoten (Klemm, 2018) in Fragebogenitems zur Erforschung von Einstellungen zu Inklusion (Gasterstädt & Urban, 2016) und in Lehrbüchern zum Ausweis (sonder-)pädagogischer Fördermöglichkeiten (Grünke & Grosche, 2014) eingesetzt. In der Sonder- bzw. mittlerweile auch in der Inklusionspädagogik wird indes die Notwendigkeit einer De-/Kategorisierung diskutiert. Es geht dabei um die Frage, ob und wenn ja, wie und welche Kategorien in der (sonder-)pädagogischen Praxis (nicht) eingesetzt werden können oder sollen. Walgenbach (2017) fasst für diese Debatte zusammen, dass es nicht um einen generellen Verzicht auf Kategorien, sondern um eine „Neugestaltung des Modus der Organisation (sonder)pädagogischer Interventionen“ (Walgenbach, 2017, S. 11, kursiv i. O.) gehe. So übernähmen Kategorien u.a. die Funktion, eine Ressourcenverteilung zu sichern (Schulz, 2017) sowie Benachteiligungen sichtbar zu machen und sie würden eingesetzt, um – wie in der Behindertenbewegung (Schulz, 2020) – „gegen sie kämpfen zu können“ (Hirschberg & Köbsell, 2017, S. 97). Aufgrund ihrer Bedeutung einerseits und der Diskussionen über sie andererseits spricht also vieles dafür, ihren Gebrauch zu reflektieren (Dederich, 2015). [1]

In der qualitativen Differenzforschung wurde der Gebrauch von Kategorien durch Lehrkräfte und im Unterricht bereits vereinzelt empirisch untersucht (vgl. 2.). Wir wissen bisher jedoch wenig darüber, wie sich Lehramtsstudierende im Feld universitärer Lehrer*innenbildung mit Kategori(sierung)en auseinandersetzen und wie welche Kategorien und damit verbunden welche Unterscheidungen eingesetzt und wie welche Zuordnungen von Schüler*innen im Zusammenhang mit pädagogischem Handeln legitimiert werden. [2]

In diesem Beitrag wird angesichts dieses Desiderats aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive anhand diskursanalytischer Auswertungen von Studierendeninterviews nach den Kategorisierungsprozessen und Verwendungszusammenhängen von Zuordnungen von Kategorien zu Schüler*innen und Bezeichnungspraktiken sowie Differenz- und Kategorienaktualisierungen gefragt. Die empirischen Daten hierfür stammen aus Interviews mit Lehramtsstudierenden, in denen auffiel, dass im Sprechen über Inklusion nach einem Praktikum in einer als inklusiv bezeichneten Klasse zahlreiche (Bezüge zu) Kategorien und unterschiedliche Differenzierungen relevant gemacht werden. [3]

Dafür referiere ich zunächst die wenigen empirischen Studien, die sich für den Gebrauch von Kategorisierungen interessieren (2.). Danach stelle ich theoretische Justierungen und methodologische Weichenstellungen für die empirische Analyse des Kategoriengebrauchs dar (3.). Im empirischen Teil, dem Hauptteil des Beitrags, stelle ich als Ergebnis der Analysen drei Figuren der Kategorisierungen und Differenzierungen von Schüler*innen und der Schwierigkeit der eindeutigen Zuordnung dar (4.). Als Fazit (5.) zu meiner Untersuchung diskutiere ich die Relevanz, sich mit Sprache im Allgemeinen und mit der performativen Wirkung von (mehrdeutigen) Kategorien im Kontext der Professionalisierung von angehenden Lehrkräften auseinanderzusetzen. [4]

Empirische Forschung zu Genese und Gebrauch von Kategorien

Ich stelle im Folgenden die wenigen Studien dar, die (den Gebrauch von) Kategorien und ihre Funktion in historischer Perspektive, mit ethnographischen Beobachtungen und Lehrkräfte-Interviews untersuchen. Ich zeige, welche Kategorien wie erforscht werden und wozu Kategorien relevant werden. Es wird in den Studien, die sowohl Kategorien in den Blick nehmen als auch Differenzierungsprozesse analysieren, insgesamt deutlich, wie Kategorien historisch entstehen, im Unterricht in Interaktionen erzeugt und diskursiv zur Legitimation pädagogischen Handelns eingesetzt werden. [5]

In der wissenssoziologisch fundierten und historisch angelegten Grounded Theory Studie fragt Bühler-Niederberger (1991) am Beispiel der Kategorie Legasthenie, wie diese über einen längeren Zeitraum entstanden ist und institutionell als wissenschaftlich Kategorie zuallererst formiert werden musste. So wurde die Kategorie Legasthenie im Prozess ihrer Entstehung und Konsolidierung, der einige Jahrzehnte dauerte, durch die Zuschreibung gemeinsamer Merkmale zu einer unhinterfragten Wirklichkeit gemacht. Als Nebeneffekt, so Bühler-Niederberger (2008), erscheinen ‚Rechtschreibschwierigkeiten‘ als neue Normalität; die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten sorgen kaum noch für Aufregung in der Schule. Die historische Kontingenz von Kategorien wird in dieser Studie ebenso deutlich wie in ähnlichen Untersuchungen zur Kategorie Lernbehinderung und Konstruktionen der Schüler*innen der Hilfsschule (Pfahl, 2011⁠; Weisser, 2017). Über den Gebrauch der Kategorien im Schulalltag im Zuge aktueller Schulreformen erfährt man in solchen historisierenden Studien jedoch nichts. [6]

Inwiefern und welche wissenschaftlich-geformten Kategorien von (schulischen) Akteur*innen im praktischen Tun oder Sprechen aufgerufen und eingesetzt werden, wird aktuell in einigen wenigen empirischen Studien untersucht. In einer konventionssoziologischen Studie auf der Basis von Interviews (Horvath, 2018⁠; 2019) und einer ethnographischen Studie zu Unterricht (Weitkämper, 2019) kann gezeigt werden, dass und wie Lehrkräfte sowohl wissenschaftlich geformte Kategorien als auch solche (mitunter eigenwillige) Kategorien (z. B. ‚Inklusionskind‘), die sich im schulischen Alltag eingebürgert haben, ohne auf eine wissenschaftliche Referenz verweisen zu können, aufrufen. In diesen Studien wird die Funktion von Kategorien, z. B. für die Legitimation pädagogischen Handelns, analysiert. So dienen Kategorien der Bewältigung komplexer Koordinationsleistungen i. S. einer Kontingenzbearbeitung und ermöglichen beispielsweise Charakterisierungen von Schüler*innen, um z. B. ihr Verhalten einordnen zu können. Sie dienen ebenso der Erklärung von Zusammenhängen von Leistungen, Verhalten und familiärer Herkunft der Schüler*innen und tauchen auch als Rechtfertigungen des eigenen Handelns auf. Durch den Bezug auf bestimmte Kategorien können sich Lehrkräfte, so die Ergebnisse beider Studien, als solche zeigen, die gerade bei ‚schwierigen‘ Schüler*innen erfolgreich pädagogisch gehandelt hätten (Horvath, 2018⁠; 2019; Weitkämper, 2019). [7]

Während die bisher referierten Studien ihre Untersuchung auf bestimmte, vorab von den Forschenden ausgewählte Kategorien fokussierten (Legasthenie, Begabung, Inklusionskind), haben weitere Studien gezeigt, dass auch andere als von Forschenden angenommene Unterscheidungen im pädagogischen Alltag eine Rolle spielen. Dies wird anhand weiterer auf Gesprächsdaten und ethnographischen Beobachtungen basierenden Studien deutlich. 1 So orientieren sich Lehrkräfte in ihrem alltäglichen Handeln z. B. weniger an der Kategorie des sonderpädagogischen Förderbedarfs der emotionalen und sozialen Entwicklung, sondern an den „individuellen Problemlagen, die sich auf das Lernen und Verhalten der Schülerinnen und Schüler auswirken“ (Gasterstädt & Urban, 2016, S, 61). Dass diese im Alltag genutzten Unterscheidungen komplexer als Unterscheidungen entlang sonderpädagogischer Förderbedarfe sind, wird auch in der ethnographischen Studie von Merl (2019) gezeigt: Er rekonstruiert, wie durch in situ vollzogene Unterscheidungen, die er als ‚nicht-/können‘ bzw. ‚un-/genügend fähig‘ benennt, die Ordnung eines störungsfreien Unterrichts aufrecht erhalten bleiben kann. In der Studie von Breidenstein et al. (2013) werden anhand ethnographischer Beobachtungen und Interviews zwar in Lehrkräfte-Schüler*innen-Interaktionen hervorgebrachte Differenzen als pädagogisch legitim bzw. illegitim rekonstruiert, aber diese Differenzen werden von den Autor*innen nicht auf bestimmte Kategorien bezogen. Dabei erwies sich zwar für die Lehrkräfte die Unterscheidung hinsichtlich ihrer Nicht-/Veränderbarkeit und daraus ableitbaren didaktischen oder pädagogischen Konsequenzen für den Unterricht als zentral. Kategorien bzw. der Gebrauch unterschiedlicher Differenzierungen als bedeutsame Unterscheidung in Situationen, ihre diskursiven Funktionen und Verweise auf pädagogische Wissensordnungen wurden jedoch nicht näher analysiert. [8]

Nachdem bisher sowohl auf Potentiale als auch Kritikpunkte der Studien eingegangen wurde, werden nun daraus vier Desiderate qualitativer Differenzforschung herausgearbeitet: Erstens werden empirische Beobachtungen tendenziell subsumtiv bestimmten, als relevant angenommenen Kategorien zugeordnet, wie es für Konstruktionen von Begabungsunterscheidungen (Horvath, 2018) und dem Gebrauch der kategorialen Bezeichnungen „Inklusionskind“ oder „I-Kids“ im schulischen Feld (Weitkämper, 2019) naheliegt. Die forscherinduzierte Konstruktion von Kategorien gerät aus dem Blick und wird kaum reflektiert. Zweitens wird in den Studien zwar davon ausgegangen, dass Kategorien in sozialen Prozessen hergestellt werden, die Situativität ihres Aufrufens – also auch ihr mögliches (wieder) Vergessenmachen oder weniger Relevantwerden, wie es Fritzsche und Tervooren (2012) für die qualitative Differenzforschung produktiv halten würden – wird jedoch kaum berücksichtigt. Drittens liegen kaum Studien vor, die aus differenztheoretischer Perspektive auch den Gebrauch sozialer oder wissenschaftlich-geformter Kategorien und ihre potentielle Bedeutsamkeit für pädagogisches Handeln in den Blick nehmen. Viertens rücken bisher in der Analyse von Kategorien in den ausgeführten Studien andere, eigenwillige Bezeichnungspraktiken, deren Hervorbringung sowie die Frage nach Zuordnungen zu Schüler*innen und die Herstellung von Kategoriengrenzen nicht in den Blick. [9]

In dieser Studie wird die Frage nach Konstruktion und Einsatz unterschiedlicher Kategorien, nach ihrer diskursiven Funktion für (Nicht-)Zuordnungen von Schüler*innen und hierin entstehenden Positionierungen anhand von transkribierten Gesprächen von Studierenden über Inklusion untersucht. Im Folgenden werden hierfür relevante theoretisch-methodologische Überlegungen angestellt. [10]

Theoretisch-methodologische Überlegungen zur empirischen Analyse des Kategoriengebrauchs in differenzierungstheoretischer Perspektive

Mit dem Ziel, das für die Analysen zugrunde gelegte theoretische Verständnis des Gebrauchs von Kategorien zu verdeutlichen, stelle ich zunächst dar, wie Kategorien bisher in kategorial-arbeitenden Forschungszusammenhängen eingesetzt werden und welche Probleme sich hieraus ergeben. Demgegenüber erläutere ich dann, wie Unterscheidungen als pädagogisches Aufmerksamwerden zu verstehen sind und im Zusammenhang mit kategorial verfassten Ordnungen stehen. Sodann werden die methodologischen und methodischen Weichenstellungen meiner Studie offengelegt und hierfür ein differenzierungstheoretisches Kategorienverständnis, wie es in diskurstheoretischer Perspektive eingesetzt wird, hergeleitet. Anschließend werden das Sampling und die Auswertungsmethode der Studie vorgestellt. [11]

Kategorien 2 werden in Studien, die im Kontext von Inklusion, Heterogenität, Diversität ihren Forschungsgegenstand kategorial bestimmen, zumeist in Form von Aufzählungen aufgerufen und als soziale, gesellschaftliche Strukturkategorien oder als Heterogenitäts- bzw. Diversitätsdimensionen bezeichnet. Ihr Einsatz in der Forschung dient dazu, Menschen, z. B. eines Geschlechts, als eindeutig unterscheidbar darzustellen. Das impliziert auch, dass die Kategorien selbst als trennscharf voneinander abgrenzbar behandelt werden. Diese vermeintliche Eindeutigkeit und Abgrenzbarkeit implizieren jedoch drei Leerstellen, aus denen heraus sich Schwierigkeiten in der empirischen Forschung und der theoretischen Begriffsbestimmung von Kategorien ergeben. Diese Leerstellen verdeutliche ich im Folgenden exemplarisch an der Kategorie ‚Behinderung‘: Erstens kann die Frage, welche Kategorien in diesen Aufzählungen (nicht) aufgeführt werden, als machtvoller Kampf um ein Nicht-/Vorkommen beschrieben werden. So weist Waldschmidt (2014) darauf hin, dass ‚Behinderung‘ in Forschungskontexten und konzeptionellen Überlegungen lange Zeit zumeist nicht bzw. unter „etc.“ aufgeführt wurde – also zu den Kategorien gehöre, „die eigentlich auch zu betrachten wären, jedoch in der Konkurrenz mit anderen Unterscheidungen eher unterliegen“ (Waldschmidt, 2014, S. 182). Zweitens liegen unterschiedliche Verständnisse der Kategorie ‚Behinderung‘ vor (Emmerich & Hormel, 2013⁠; Lindmeier, 2019), wodurch die Schwierigkeit der theoretischen Bestimmung dieser Kategorie deutlich wird. Hiermit zusammen hängt auch die Frage, welche Fachdisziplin wie (nicht) zuständig für die theoretische Bearbeitung von ‚Behinderung‘ ist (Lindmeier & Lütje-Klose, 2015⁠; Tervooren, 2017). Die Frage der (Nicht-)Zuständigkeit steht somit in einem engen Verhältnis mit Kategoriengrenzen. Dass Kategorien unterschiedlich verstanden werden und damit auch mehrdeutig sind, lässt sich schließlich drittens auch daran beobachten, dass unterschiedliche (Erklärungs-)Modelle von Behinderung vorliegen (Waldschmidt, 2005). [12]

Diesen Schwierigkeiten kategorial-arbeitender Zugänge kann begegnet werden, indem nicht vorab gesetzt wird, welche Kategorien empirisch beobachtet werden und Kategorisierungsprozesse differenzierungstheoretisch zu bestimmen. Vorab ist jedoch zunächst festzuhalten, dass Kategorien als Teil eines diskursiven Wahrnehmungsprozesses des Aufmerksamwerdens auf etwas als etwas verstanden werden und diskursiv zur Verfügung stehen, d. h. sie können aufgerufen werden, müssen es aber nicht. Mit Dederich (2017, S. 53) kann argumentiert werden, dass in Beobachtungen pädagogischer (Handlungs-)Situationen auf Erfahrungs- und Fachwissen zurückgegriffen bzw. dieses aktualisiert wird. Dieses Wissen zeichnet sich durch eine begriffliche Verfasstheit aus, die „vor allem in professionellen Kontexten die Form kategorialer Differenzierungen annehmen [kann]“ (Dederich, 2017, S. 53). Oder anders ausgedrückt: „[...] das Erkennen sozialer Unterschiede [setzt] das Wiedererkennen kategorialer Unterscheidungen voraus“ (Emmerich & Hormel, 2013, S. 11, Herv. i. O.). Nur das, was auffällt oder sich der Aufmerksamkeit aufdrängt, kann überhaupt erst pädagogisch relevant (gemacht) werden (Dederich, 2015, S. 201ff.). Durch das Aufmerksamwerden kann etwas bezeichnet und somit auch unterschieden werden. Das Aufmerksamwerden ist dabei nicht zufällig, sondern unterliegt Selektionsentscheidungen (Breidenstein, 2012). Im Sprechen über das, worauf aufmerksam geworden ist bzw. über die aus dem Aufmerksamwerden resultierenden Beobachtungen, werden Bezeichnungen „von etwas als etwas“ hervorgebracht oder aufgerufen und damit aktualisiert, die „nie neutral oder harmlos [sind], diese soziale Praxis ist vielmehr ein Medium hegemonialer Kämpfe“ (Rieger-Ladich, 2017, S. 34, Herv. i. O.). In Bezeichnungen wird „um Definitionshoheit gerungen“ (Rieger-Ladich, 2017, S. 34) und „hierarchisch verfasste symbolische Welten und diskursive Ordnungen [werden] erzeugt“ (Rieger-Ladich, 2017, S. 34). Damit sind sie Teil der sozialen Welt, greifen in diese ein und sind zugleich Teil der Aushandlungen von neuen Ordnungen bzw. Verschiebungen alter Ordnungen (Rieger-Ladich, 2017, S. 38). [13]

Vor dem Hintergrund eines reflexiven machtkritischen Verständnisses von Kategorien und Kategorisierungen schließe ich in meiner Studie, wie bereits angekündigt, an einen kontingenzgegenwärtigen differenzierungstheoretischen Ansatz (Hirschauer, 2014) an, in dem Kategorien nicht zum Ausgangspunkt der Analysen gemacht werden. Sie können in diesem Ansatz verstanden werden als „Einordnungen mit Hilfe einer Unterscheidung, die im Rahmen einer Vergleichsperspektive gemacht wird, in der zwei Objekte, die in einer Hinsicht gleich gesetzt wurden (etwa als ‚Menschen‘) nach bestimmten Kriterien ‚gleich‘ oder ‚ungleich‘ erscheinen“ (Hirschauer, 2014, S. 173⁠; Rabenstein, Laubner & Schäffer, 2020). In welcher Hinsicht dies vollzogen wird, ist dabei nicht zufällig, sondern unterliegt, wie bereits beschrieben, machtvoll-strukturierten Differenzordnungen. Das Unterscheiden und das damit verbundene Vergleichen sowie das hierarchisierende Einordnen als un-/gleich sind also wesentlich für Kategorisierungspraktiken. Das Ein- oder auch Zuordnen vollzieht sich subsumierend und wird mit Bezeichnungen verbunden (Hirschauer, 2014, S. 173). Mit diesen zumeist kategorialen Bezeichnungen wird eine (soziale) Sichtbarmachung (Emmerich & Hormel, 2013, S. 28) und eine Relevanz für Interaktionen erzeugt. Kategorien folgen einer „Logik der Identität, weil bestimmte Unterscheidungen selektiv auf Dauer gestellt werden“ (Emmerich & Hormel, 2013, S. 11, Herv. i. O.); es wird demnach eine zeitliche Stabilität angenommen, die zudem einem Entweder-Oder-Schema unterliegt (Emmerich & Hormel, 2013, S. 25). Wenn etwas kategorial bezeichnet wird, dann ist dies für gewöhnlich die markierte „anormale“ Seite, die als „die Ausnahme, als die Besonderung, als Aufmerksamkeit auf sich ziehend“ (Wrana, 2014, S. 84) erzeugt wird. Kategorien bzw. kategoriale Bezeichnungen und damit verbundene Differenzierungsprozesse verweisen somit auch auf Normalitätskonstruktionen. [14]

Zusammenfassend gehe ich für die folgenden Analysen davon aus, dass Kategorien einerseits diskursiv zur Verfügung stehen, sie können im Sprechen, in dem Differenzierungen vollzogen werden, eingesetzt und damit hervorgebracht und/oder re-aktualisiert werden; sie können jedoch auch nicht relevant oder wieder ‚vergessen‘ oder neutralisiert werden. Der Zusammenhang zwischen Kategorien und Differenzierungen zeigt sich darin, dass Differenzierungen kategoriale Bezüge aufweisen können und über Kategorisierungen und kategoriale Bezeichnungen Differenzierungen vollzogen werden. Das Potential dieses Verständnisses von Kategorien und Kategorisierungsprozessen liegt darin, dass auch vermeintlich kategorial-uneindeutige und eigenwillige Bezeichnungen in den Fokus der Analyse rücken. Für die Forschung operational fruchtbar gemacht werden kann dieser Ansatz durch eine diskurstheoretisch informierte Perspektive, mit der nach der diskursiven Funktion des Aufrufens von (kategorialen) Differenzen, der Erzeugung von ‚Wirklichkeit‘ – d. h. z. B. die Kategorien als natürlich gegeben und eindeutig zu verstehen – der Legitimierung (kategorialer) Ein- und Zuordnungen gefragt wird. [15]

Analysiert werden diese Fragen im Folgenden anhand von zwölf leitfadengestützten Interviews mit Lehramtsstudierenden, die im Rahmen eines Zertifikatsprogramms zu ‚Inklusion‘ abschließend ein ‚inklusives‘ Praktikum an einer Gesamtschule absolviert haben. Die Interviews bestanden aus zwei Teilen. Im ersten Teil wurde mit offenen Erzählimpulsen dazu aufgefordert, die Klasse, in der sie das Praktikum absolviert haben, zu beschreiben und über das Praktikum zu erzählen. Im zweiten Teil, der in dieser Auswertung nicht berücksichtigt wurde, wurden evaluative Fragen zu den von ihnen besuchten Seminarveranstaltungen und resümierende Nachfragen zum Stellenwert von Inklusion für die erwartete spätere Berufstätigkeit gestellt. Die Interviews wurden transkribiert und anschließend thematisch kodiert, um einen Überblick über häufig auftretende Themen zu gewinnen. Dabei fiel auf, dass sich die Studierenden vor allem zu Beginn des Interviews mit der Frage auseinandersetzten, über welche Schüler*innen – durch den (unausgesprochenen) Kontext des Interviews auf Inklusion – gesprochen werden soll oder darf. Davon wurden insgesamt elf Textstellen für die Feinanalyse ausgewählt, von denen die Analysen zu drei kontrastierenden Textstellen im Folgenden dargelegt werden. Gezeigt werden kann somit die in dem Sample zu beobachtende Varianz des Gebrauchs von Kategorien und anderen kategorialen Bezeichnungen. Die Interviews wurden auf Basis einer im Anschluss an Hirschauer (2014) entwickelten differenztheoretischen Heuristik sequenziell ausgewertet (Rabenstein et al., 2020). Der Fokus lag einerseits auf dem Verhältnis von Differenzierungen und Kategoriengebrauch und andererseits auf den diskursiven Funktionen ihres Gebrauchs. [16]

Empirische Ergebnisse: Zur Mehrdeutigkeit von Kategorien und dem Versuch der Herstellung von Eindeutigkeit

Die Analysen folgen in weiten Teilen dem sequenziellen Verlauf der Äußerungen. Die Ergebnisse sind dabei im Folgenden verdichtet dargestellt. Ich fokussiere insbesondere das Vorkommen und den Gebrauch kategorialer Bezeichnungen und das Hervorbringen von Differenzierungen. Dafür analysiere ich ihre diskursiven Funktionen und die mit ihrem Einsatz hervorgebrachten Positionierungen. Ich beginne jeweils mit einer Kontextualisierung der ausgewählten Textstelle. [17]

Mit der ersten Figur zeige ich, wie sich in einer Erzählung der Studentin zu der Aufforderung einer Lehrkraft, bestimmte Schüler*innen in der Klasse zu suchen, die Schwierigkeiten kategorialer Zuordnungen und deren diskursive Bearbeitung beobachten lassen. In der Analyse der zweiten Figur wird deutlich, wie im Sprechen über Schüler*innen einer Klasse einerseits Wissen über pädagogisch legitime Kategorisierungen eingesetzt wird, dann andererseits aber die Kontingenz von Differenz und Normalität bearbeitet wird. Mit der dritten Figur verdeutliche ich, wie mit den von einem Studenten geschilderten Beobachtungen versucht wird, Schüler*innen einer bestimmten Kategorie vereindeutigend zuzuordnen. [18]

Schwierigkeiten kategorialer Zuordnungen angesichts der Aufforderung, „nach den kindern“ zu suchen

I1 wird zu Beginn des Interviews aufgefordert, die Klasse und den Unterricht zu beschreiben. Nachdem die Klassengröße und die ungefähre Geschlechterverteilung genannt werden, fährt I1 wie folgt fort3: [19]

I1: (...) zwei bis drei lernschwächekinder drei i kinder mit=mit=mit (.)ne (.) drei lern- genau drei mit lernschwäche und drei mit rechtschreibschwäche4 (...)also man saß in der klasse und die sonderpädagogin war so schlau uns am anfang nach den kindern suchen zu lassen und nicht direkt zu sagen welche das sind (.) und wir sind nicht drauf gekommen [20]

In der Äußerung werden anfangs Bezeichnungen („lernschwächekinder“; „i kinder“, „drei mit lernschwäche“; „drei mit rechtschreibschwäche“) aufgerufen und numerisch und damit individualisierend mit der Bezeichnung „Kindern“ – und nicht Schüler*innen – in Verbindung gebracht. In der Reihung wird eine Schwierigkeit in der Bezeichnung und ihrer Zuordnung zu bestimmten Schüler*innen ersichtlich, da letztlich die genaue Zahl der Schüler*innen offenbleibt. In den Bezeichnungen werden Differenzierungen aktualisiert, in denen sich nicht-erfüllte Fähigkeitserwartungen (Lernschwäche, Rechtschreibschwäche) schulischer Anforderungen zeigen und die sich auf pädagogisch-psychologische Wissensordnungen beziehen; durch sie werden über die Markierung der anormalen Seite (der „Schwäche“) Hierarchisierungen und Abgrenzungen zu nicht-bezeichneten Schüler*innen hervorgebracht und Normalitätserwartungen (Lernfähigkeit, Rechtschreibkompetenz) stabilisiert. Die Bezeichnung „i Kinder“, die, wie sich durch die Schwierigkeit der ‚Suche‘ noch zeigen wird, kategorial-uneindeutige Bezüge aufweist, und damit verbundene Positionierungen des*der Schülers*in werden als solche diskursiv erst im Kontext der Inklusionsreform hervorgebracht. Im Aufrufen dieser kategorisierenden Bezeichnungen von mit der Inklusionsreform im Zusammenhang stehenden Kindern kann sich die Interviewte nicht nur als Erwachsene gegenüber Kindern, sondern auch als Studierende zeigen, die mit den Terminologien des inklusionsbezogenen Diskurses zumindest ansatzweise vertraut ist, diese im Praktikum ‚(kennen)gelernt‘ hat und die darüber erzählen kann, welche Schüler*innen welchen Kategorien möglicherweise zuzuordnen seien – somit involviert sie sich in relevante Wissensordnungen schulpraktischer Zusammenhänge. [21]

Im Anschluss ruft die Interviewte eine Situation aus dem Unterricht auf, in der sie von der Sonderpädagogin aufgefordert wurde, „nach den Kindern [zu] suchen“, um so Wissen über die geltenden Zuordnungen zu erlangen und später zu zeigen. Mit der Formulierung „den Kindern“ wird von einer Eindeutigkeit einer damit aufgerufenen Gruppe von Kindern ausgegangen, als ob gar nicht weiter bezeichnet werden müsse, um welche Schüler*innen es sich genau handle. Die Aufforderung zur Suche seitens der Lehrkraft, die auch auf das Betreuungsverhältnis zwischen der Lehrkraft und den Praktikant*innen hinweist, kann somit einerseits als ein Eindeutigkeitsversprechen einer nicht weiter bezeichneten Kategorie verstanden werden und impliziert, bestimmte Kategorien seien ‚selbstverständlich‘ und damit fraglos im Gebrauch, d. h. auch die Zuordnungen von Schüler*innen zu ihnen gelten als natürlich gegeben. Weiterhin kann sie paradoxerweise zugleich andererseits interpretiert werden als Möglichkeit der Verdeutlichung der Schwierigkeit, bestimmte Schüler*innen ‚finden‘ zu können. Es zeigt sich in dieser Aufforderung somit auch die Norm inklusiven Unterrichts, dass in diesem Unterricht Unterschiede – mindestens für Außenstehende – nicht sichtbar werden sollen, wenngleich die Fachkräfte das Wissen um diese Unterschiede für sich beanspruchen und in das Betreuungsverhältnis im Praktikum als bedeutsames Wissen einbringen. In der Darstellung der Interviewten wird nun diese Suchaufforderung i. S. eines erkenntnisreichen Lerneffekts bewertet, indem die Sonderpädagogin als „schlau“ markiert wird. Die Sonderpädagogin wird in der Erzählung konstruiert als Wissende, die legitimerweise die Zuschreibungs- und Informationsmacht innehat, mitzuteilen, welche Schüler*innen letztlich gesucht und gefunden werden sollen. Die Praktikantin bzw. die Interviewte hingegen positioniert sich als Lernende, die sich legitimer Weise mit der Frage auseinandergesetzt habe, welche Schüler*innen in einer inklusiven Klasse zu beobachten seien. [22]

Schauen wir nun nochmal auf die gesamte Textstelle, wird deutlich, dass die Erzählung über die Aufforderung zur Suche in der hier zitierten Interviewpassage zugleich als Legitimation der zu Beginn der Äußerung deutlich gewordenen Schwierigkeit kategorialer Zuordnungen zu verstehen ist. Dass es schwierig zu sein scheint, die gesuchten Schüler*innen zu finden oder zu erkennen, erzeugt zwar eine Irritation („nicht drauf gekommen“), es wird sich jedoch von dem Rätsel nicht distanziert, obwohl im Sprechen über diese Situation in der Interviewsituation selbst die Schwierigkeiten der Zuordnung deutlich wird. Das Rätsel zu lösen wird stattdessen als legitime Aufgabe angenommen. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit kategorialer Zuordnungen von Schüler*innen werden in der Textstelle dadurch als relevantes professionell-pädagogischem Wissen konstruiert. Dadurch zeigt sich auch, dass in der Darstellung der Interviewten von den ‚gesuchten‘ Schüler*innen eigentlich angenommen wird, dass sie zu ‚sehen‘ bzw. visuell erkennbar seien. Das aber heißt auch: Diese Nicht-Eindeutigkeit der Kategorien, die durch die ‚Suche‘ in Geltung versetzt werden sollen, lässt sich für die Interviewte nicht mit den eigenen Beobachtungen und Vorstellungen bestimmter Schüler*innen übereinbringen. [23]

Die Bedeutung des Wissens über Schüler*innen und die Bearbeitung der Kontingenz von Differenz und Normalität

I2 berichtet zuvor von acht „Inklusionskindern“ in seiner Praktikumsklasse und zeigt sich somit als Student, der gut über kategoriale Unterscheidungen in der Klasse informiert ist. Die Interviewerin fragt daraufhin nach der Klassengröße: [24]

I2: die klasse war insgesamt auf sechsundzwanzig kinder (.) also eine klasse die auch durchaus groß ist (.) wo halt auch nicht als inklusionskind diagnostizierte kinder fragestellungen haben (.) wo man dann hingehen kann (.) dem kind zur seite stehen muss und deren frag-probleme beantworten muss die teilweise die gleichen oder sogar schlimmere sind als bei den inklusionskindern also (.) man hat das ehrlich gesagt nicht gemerkt das das inklusionskinder sind hätte man es nicht gewusst (.) es gab kinder mit gewissen verhaltensauffälligkeiten (.) die man auch wiederholt aufgetreten sind wo man dann gemerkt hat ok ja (.) dieses kind könnte man als inklusionskind einstufen aber das ich glaube das diese einstufung als inklusionskind das ganze deutlich verschlimmert hat (.) weil man eben immer das blickfeld auf diesen kinder hatte [25]

Durch die Konstruktion der Klasse von 26 Schüler*innen als „groß“ wird es möglich, sodann mehrere Gruppen von Schüler*innen als problematisch zu konstruieren: Eingangs wird eine Gruppe von Schüler*innen als „nicht als inklusionskinder diagnostizierte kinder“ bezeichnet. Durch die Abgrenzung mit der eigenwilligen Kennzeichnung, es gehe nicht um die Schüler*innen, die mit der Inklusionsreform in einem Zusammenhang gesehen werden („Inklusionskinder“), kann eine weitere Gruppe, über die gesprochen wird, als gleichermaßen problematisch hervorgebracht werden. Durch die Adjektiv-Beschreibung („diagnostiziert“) wird ein Wissen über einen vorangegangenen Diagnoseprozess aufgerufen, in dem legitime Zuschreibungen ((nicht) diagnostiziert) hervorgebracht wurden. Auch wenn hier auf diese mit einer Diagnose abschließende Zuschreibung fokussiert wird, wird die Diagnose als Ergebnis mit der konkreten Kategorie „Inklusionskind“ und einer Gruppe von Schüler*innen verbunden und damit fixiert. Mit einer solchen Bezeichnung kann sich als Student*in gezeigt werden, der*die über Wissen über Diagnoseprozesse und Kategorien verfügt. [26]

Im Modus des Vergleichens werden dann Differenzierungen aktualisiert: Demnach haben diese „nicht als inklusionskind diagnostizierte[n] kinder“ ebenso „fragestellungen“, die ein pädagogisches Handeln erforderlich machen können („wo man dann äh hingehen kann“) oder müssen („deren frag-probleme beantworten muss“). Damit zusammen hängt auch, wann welches Verhalten wem (nicht) auffällt, wodurch pädagogische Normen hinsichtlich der Frage nach einem pädagogischen Aktiv-Werden aufgerufen werden. Die Differenzierungen („teilweise gleichen oder sogar schlimmere“ Fragestellungen) werden zum einen entlang von Normalitätserwartungen vollzogen, d. h. die Nicht-Bezeichneten entsprechen hier der Deutungsfolie für Erwartungen. Zum anderen werden jedoch auch die „Inklusionskinder“ als Gruppe mit der Funktion weiterer Unterscheidungen herangezogen („teilweise gleichen oder sogar schlimmere“). Durch diese Vergleiche werden Differenzen von einigen Schüler*innen im Vergleich zu den anderen dramatisiert und – im gegenteiligen Sinne – Differenzen innerhalb der Gruppe der „als inklusionskinder diagnostizierte[n] Kinder“ entdramatisiert bzw. durch diesen Vergleich abgeschwächt. [27]

Mit der Interpretation dieser Textpassage wird deutlich, dass die Bezeichnung („inklusionskind“) und ihre kategorialen Bezüge an ihre Grenze kommen, da Erwartungen an schulisches Normalverhalten, die mit einer bestimmten Gruppe nicht verbunden wurden, auch für andere Schüler*innen nicht zuzutreffen scheinen und in der Konsequenz ebenso als pädagogisch zu bearbeitend konstruiert werden. Die als ‚normal‘ angenommene Gruppe der Nicht-Bezeichneten erweist sich ebenso als kontingent und als nicht homogene Gruppe, die unterschiedliche Einteilungen ermöglicht und entlang derer Abweichungen durch Beobachtungen entstehen. Die Kontingenz der Kategorie ‚Inklusionskind‘ und die unklare Kategoriengrenze präfiguriert erst die Schwierigkeit der Bestimmung der ‚normalen‘, nicht-bezeichneten Gruppe. Über die Gruppen hinweg wird jedoch ein Zusammenhang zwischen problematischen Schüler*innen und Inklusion erzeugt. [28]

Die Äußerung setzt sich nach dieser Unterscheidung fort und es wird ein Zusammenhang zwischen der Schwierigkeit der Zuordnung der Kategorie („Inklusionskind“) und der Informiertheit über kategoriale Zuordnungen erzeugt („man hat das ehrlich gesagt nicht gemerkt das das inklusionskinder sind hätte man es nicht gewusst“). Die Möglichkeit des ‚Erkennens‘ („merken“) der „Inklusionskinder“ wird hier diskursiv mit zur Verfügung gestellten Informationen verbunden. Damit kann zugleich die Vorstellung, dass die Zuordnung eigentlich als grundsätzlich möglich erwartet wurde und die Gruppe als Folge von Kategorisierungen ‚erkennbar‘, ‚offensichtlich‘ oder ‚eindeutig’ sei, analysiert werden. Mit der Beschreibung, „das [...] nicht gemerkt“ zu haben, wird weniger ein bewusst-gezielter Prozess der Auseinandersetzung aufgerufen, sondern Bezug auf die eigene Wahrnehmung genommen. Die zuvor aktualisierten Differenzierungen werden, indem die Bedeutung des Kategorienwissens aufgerufen wird („dieses kind (.) könnte man als inklusionskind einstufen“), in der Tendenz neutralisiert, da sie rückblickend für die Zuordnung weniger relevant waren. Entscheidender scheint die Differenz „wiederholt aufgetreten[er]“, „gewisse[r] Verhaltenssauffälligkeiten“, die als Kriterium einer möglichen („könnte man“) „Einstufung“ als „Inklusionskind“ dient. Die Zuordnung bleibt jedoch kontingent und der Versuch, Eindeutigkeit herzustellen, erweist sich als schwierig, da das Kriterium nicht für alle Schüler*innen greift. Durch den Konjunktiv wird die Positionierung hervorgebracht, diese Einstufungen, die hier sprachlich den Zuschreibungsprozess hervorheben, auch infrage zu stellen. Die zugeschriebene Diagnose wird durch eine Bewertung („ich glaube“) als problematisch beschrieben („das ganze deutlich verschlimmert hat“) und durch die Einstufung würde sich „immer das blickfeld auf diese kinder“ ergeben. Pädagogische Beobachtungen werden demnach durch diese Differenzkonstruktionen, die wiederum mit kategorialem Wissen zusammenhängen, beeinflusst. [29]

Für diese Textstelle lässt sich resümieren, dass sich die Bewertungen von Differenzierungen an schulischen Ordnungen orientieren. Zugeschriebene Kategorien oder auch die Diagnosepraxis, auf die rekurriert wird, bzw. das Wissen über diese Prozesse, erweisen sich durch die Kontingenz der Kategorie und der kontingenten Normalität hierfür nicht als hilfreich, die Unterscheidung entlang „gewisse[r] Verhaltensauffälligkeiten“ hingegen schon. In den Relationierungen zweier konstruierter Gruppen und der dafür in Geltung gesetzten kategorialen Bezeichnungen lässt sich zusammenfassend eine stete Aushandlung von Normalität als In-Beziehungsetzung verschiedener Differenzierungen (als Abweichungen) analysieren. [30]

Bearbeitung der Mehrdeutigkeit kategorialer Bezeichnungen durch die versuchte Herstellung von Eindeutigkeit

I3 beschreibt zuvor die Klasse und bezeichnet dabei eine Gruppe von Schüler*innen als „inklusive Kinder“, die alle einen „Lernförderungsbedarf“ hätten. Die Interviewerin fragt dann nach konkreten Beobachtungen der „inklusiven Kinder“. [31]

I3: es gab einige die sich sehr gut inte- integriert haben vor allem nach der er- ende während der zweiten der zweiten woche haben wir noch mit der=mit der mentorin geredet die habn wir erst erfahren dass es noch mehr weil wir dachten vielleicht drei vier das es eben noch mehr sind und das ist uns gar nicht aufgefallen einige sind wirklich haben sich (.) nur wenn man sich wirklich mit denen hinsetzt (.) und beim lernen zuguckt oder dabei hilft und dann merkt man erst okay sie brauchen vielleicht ein bisschen mehr zeit oder sie sind einfach langsamer oder (.) oder braucht jemanden der da sitzt und dann mal sagt so nun mach das mal aber ansonsten ist es nich wirklich aufgefallen [32]

Zu Beginn wird von „einige[n]“ gesprochen, sodass unabhängig von bestimmten Kategorien über unterschiedliche Schüler*innen gesprochen werden kann. Als bedeutende Unterscheidung wird die Beobachtung der Integrationsfähigkeit aufgerufen, welche „einige[n]“ Schüler*innen – später numerisch als „drei vier“ erfasst – zugeschrieben wird. Die Differenz „inklusive Kinder“, die in der Textpassage vorausgehenden Äußerung im Interview gebraucht wurde, wird im Sprechen von I3 zu „einigen“ Schüler*innen somit nicht mehr in Kraft gesetzt. Die genaue Zahl wird nicht genannt, es handle sich aber um mehr Schüler*innen als erwartet, wie sie von der Mentorin in der zweiten Woche des Praktikums erfahren hätten. Die erhaltene Information wird mit den eigenen Beobachtungen abgeglichen: Indem verwundert („das ist uns gar nicht aufgefallen“) erzählt wird, diese Schüler*innen seien nicht „aufgefallen“, wird einerseits die statische Konstruktion dieser Gruppe als eigentlich „auffällig“ und in ihrem ‚Auffallen‘ als eigentlich eindeutig sichtbar erzeugt. Die Schwierigkeit der numerischen Erfassung und der Zuordnung sowie die Hervorhebung des Nicht-Auffallens bringt anderseits eine Mehrdeutigkeit der nicht genauer bezeichneten Kategorie hervor. Im Fortlauf der Äußerung lassen sich verschiedene Differenzierungen beobachten, die der Gruppe zugeschrieben werden, die eigentlich nicht aufgefallen sei. Die Differenzierungen werden sowohl als fest („einfach“) als auch verflüssigend hervorgebracht und flexibilisieren die Kategorien („vielleicht“, „ein bisschen“, „mal“). Diese Schüler*innen seien zudem „langsamer“ und bräuchten jemanden, „der da sitzt“. Die Differenzierungen werden dabei entlang der Konstruktion eines*r ‚normalen‘ Schülers*in produziert und beziehen sich vor allem auf schulische Wissensordnung, die sich als ‚Lern- und Arbeitsverhalten‘ beschreiben lassen. Das ‚Erkennen‘ bestimmter Schüler*innen („denen“) wird erst möglich durch ein genaues Beobachten („zuguck[en]“), körperlicher Nähe i. S. eines Sich-Zuwendens und einem bewussten, gezielten Wollen, für das sich Zeit genommen werden muss. [33]

In der Äußerung zeigt sich zusammenfassend der Versuch eines Plausibilisierens kategorialer Zuordnungen von Schüler*innen, indem vermeintliches Wissen über die Schüler*innen, das sie durch Informationen der Mentorin erhielten und als ‚gültig‘ anerkannten, durch eigene Beobachtungen validiert und mit (pädagogischen) Maßnahmen (z. B. „brauchen vielleicht ein bisschen mehr zeit“) verknüpft wird. In der Äußerung werden keine fachlichen Terminologien aufgerufen, sondern Schüler*innen in ihrem Lern- und Arbeitsverhalten beschrieben. Diese Beschreibungen wären in der Form bei vielen oder auch allen Schüler*innen – zumindest situativ – vorstellbar. Sie ermöglichen in Verbindung mit der Aufschichtung unterschiedlicher Differenzierungen eine Homogenisierung und kategoriale Zuordnungen von Schüler*innen zu einer Gruppe, die nicht eindeutig bezeichnet wird („denen“). Somit wird hier eine im Zusammenhang mit dem Rekurs auf einige Schüler*innen entstehende Mehrdeutigkeit in eine beobachtbare Eindeutigkeit und dem Versuch einer eindeutigen Zuordnung als bestimmte Gruppe von Schüler*innen transformiert. Diese wird abschließend wieder entschärft oder flexibilisiert, indem durch eine Hervorhebung anderer Beobachtungen („ansonsten“) die eigene Erzählung relativiert wird („nich wirklich“). Nicht genau benannt wird, „was“ „ansonsten“ nicht aufgefallen ist. Diese abschließende Äußerung kann gelesen werden als Wiederherstellung einer Offenheit und als ein Vergessenmachen von Differenzen, wodurch die Norm des Nicht-Erkennen-Sollens und -Könnens aktualisiert wird. Dadurch kann sich als Student gezeigt werden, der zwar Schüler*innen beobachtet, gleichzeitig jedoch die Norm anerkennt, bestimmte Schüler*innen nicht als Bestimmte zu bezeichnen und zu kategorisieren. [34]

Zusammenfassung

Die Analyseergebnisse zusammenfassend lassen sich zunächst die im Sprechen der Lehramtsstudierenden gezeigten Schwierigkeiten der Zuordnungen der Schüler*innen zu kategorialen Bezeichnungen bzw. der mit deren Hilfe entworfenen Gruppen hervorheben. Diese Schwierigkeit wird bearbeitet, indem im Sprechen über Beobachtungen von Schüler*innen versucht wird, Eindeutigkeit in der Zuordnung von Schüler*innen zu mit bestimmten Kategorien bezeichneten Gruppen herzustellen. Dabei werden die betreuenden Lehrkräfte in zwei der drei Äußerungen als jene positioniert, die Informationen über Schüler*innen und Kategorisierungen der Praktikant*innen zur Verfügung stellen können. Der Umgang mit Kategorien wird damit möglicherweise auch zu einem Gegenstand von Professionalisierungserwartungen im Praktikum. Im Modus des Vergleichens und der In-Verhältnissetzung verschiedener Schüler*innenbeobachtungen zueinander werden in z. T. eigenwilligen Bezeichnungspraktiken („inklusionskind“) Differenzierungen hervorgebracht, durch die Abweichungen von der schulischen Normalität konstruiert werden. Dabei erweisen sich, so das Ergebnis der Analysen, jedoch die Kategorisierungen ebenso als kontingent wie die Konstruktion schulischer Normalität und die Zuordnungspraktiken. Dieses als kontingent zu verstehende Hervorbringen unterschiedlicher Differenzierungen ermöglicht zudem, Unterschiede als für den Unterricht bedeutsame Unterschiede thematisieren zu können. Diese Unterschiede verweisen auf pädagogische Ordnungen sogenannten schulischen Lern- und Arbeitsverhaltens. Zugleich werden Differenzierungen und Kategorisierungen entdramatisiert, indem die Norm des Nicht-Erkennen-Sollens und -Könnens von bestimmten Schüler*innen anerkannt wird. Im Aufrufen von mit kategorialen Bezeichnungen und damit erzeugten Differenzen werden diese Differenzen mit der Notwendigkeit verknüpft, pädagogisch aktiv werden zu müssen oder zu können. Die erzählten eigenen Beobachtungen der Interviewten und die von Lehrkräften erhaltenen Informationen werden in den ausgewählten Textstellen zudem so miteinander in Beziehung gesetzt, dass sie sich in ihrer legitimen Geltung des Wissens über Unterschiede von Schüler*innen wechselseitig stabilisieren. In der Erzählung kann sich dabei paradoxerweise zugleich als Studierende gezeigt werden, die sich an der Norm orientiert, sich kritisch mit Kategorien auseinanderzusetzen, aber auch die Norm des Nicht-Erkennen-Sollens und -Könnens aufrechterhält. Diese Ergebnisse werden im Folgenden (5.) zuerst weitergehend theoretisiert und anschließend hinsichtlich ihrer Bedeutung für die universitäre Lehrer*innenbildung diskutiert. [35]

Thematisierung (un-)ein- und mehrdeutiger Kategori(sierung)en in der Lehrer*innenbildung

Mit den Ergebnissen konnte erstens gezeigt werden, dass Kategorien im Sprechen über Inklusion und Beobachtungen in der Schule wichtig zu sein scheinen und unterschiedliche diskursive Funktionen für Schüler*innen-Zuordnungen und Positionierungen übernehmen. Ein Verzicht auf Kategorien würde somit keinen Ausweg aus „begriffliche[n] und kategoriale[n] Festlegungen“ (Dederich, 2015, S. 200) darstellen. Stattdessen spricht einiges dafür, aufgrund der „nicht tilgbaren Differenz zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem“ (Dederich, 2015, S. 200) von einer Unbestimmtheit von Kategorien auszugehen und als konstitutiv anzunehmen. Hierdurch wird die Möglichkeit eröffnet, Kategorien mit diesem Wissen bewusst anzuwenden und „[d]urch die Kategorie über die Kategorie hinauszugehen“ (Dederich, 2015, S. 205). Die Verwendung von Kategorien ist also zweitens als eine kontingente Bezeichnungspraxis zu verstehen, die reflexiv immer wieder als eine solche zu verdeutlichen sei (Schulz, 2020). Somit sind drittens auch problematische Implikationen unterschiedlicher (auch alternativer) kategorialer Bezeichnungen – wie es am Beispiel der Bezeichnung ‚Inklusionskind‘ oder Hervorhebungen der anormalen Seite – deutlich wurde und die Frage, wem diese (nicht) zugeschrieben werden, kritisch zu diskutieren (Dederich, 2015⁠; Weisser, 2005). Nimmt man einen engen Zusammenhang von Sprache, Macht und Anerkennungsordnungen an (Ricken, Rose, Kuhlmann & Otzen, 2017), dann sind Bezeichnungen – ihre Herkunft, ihre Verwendung und ihre Modifizierung im Zusammenhang mit Fragen sozialer Ordnungsbildung – immer wieder in die Aufmerksamkeit des Sprachhandelns zu rücken. [36]

Ausgehend von der adressierenden, performativen und machtvollen Wirkung und Wirkmächtigkeit von Sprache für pädagogisches Handeln (Ricken et al., 2017⁠; Rieger-Ladich, 2017) könnte in der Lehrer*innenbildung der Gebrauch von Kategorien verstärkt zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Drei Thematisierungsweisen von Kategorisierungen wären dabei miteinander zu verbinden: Erstens wäre zu fragen, wie welche (kategorialen) Bezeichnungen und Differenzierungen einerseits im Sprechen über Schüler*innen und andererseits in direkten Adressierungen von Schüler*innen aktualisiert und hervorgebracht werden, welche kategorialen Bezüge wie eingesetzt werden und welche damit einhergehenden Wertungen von Schüler*innenverhalten etc. diese mit sich führen. Hierdurch wird es auch möglich, die Normativität kategorialer Bezeichnungen und deren historische Kontingenz (Weisser, 2003) vor dem Hintergrund der Frage zu analysieren, wie diese in unterschiedlichen Kontexten mit Bedeutung ‚ausgestattet‘ werden (z.B. für die Kategorie Lernbehinderung: Pfahl, 2011). Aufzuzeigen wäre dann auch, wie welche Kategorisierungen mit (eigenen) Vorstellungen und der Zu-/Abschreibung von Lernfähigkeit zusammenhängen (können). [37]

Zweitens könnte gefragt werden, welche diskursiven Funktionen Kategorisierungen in den konkreten Kontexten des Sprechens erhalten. Kategorisierungen in Studierenden- und Lehrkräfteäußerungen, wie sie in diesem Beitrag analysiert wurden und die z. B. die ‚Suche‘ nach bestimmten Schüler*innen zum Thema machen, können als „Ordnungspraxis“ verstanden werden. In dieser wird das „Wissen über ‚Zielgruppen‘ und die ihnen damit zugeschriebene Homogenität in ihren Bedürfnissen, Voraussetzungen und Eigenschaften“ (Wrana, 2013, S. 55) geordnet. Zu diskutieren wäre, welche Anforderungen an Lehrkräfte wiederum diese Ordnungspraxis erforderlich und als legitim erscheinend machen. Dass sich im Sprechen – vermutlich nicht nur der Studierenden – jedoch auch Schwierigkeiten der Zuordnung beobachten lassen, kann zugleich als Anlass gelesen werden, ‚gültige‘ Bezeichnungen in universitären Lehrveranstaltungen ebenso zum Gegenstand der analytischen Auseinandersetzungen mit Kategorien zu machen, wie das (vorübergehende) Nicht-Aufrufen verschiedener Kategorien oder Differenzierungen. Zu fragen wäre dann, welche alternativen Bezeichnungen welche diskursiven Effekte zur Folge haben könnten und welche Unterschiede darin bestehen, wer welche Kategorisierungen vollzieht. [38]

Dabei wären unterschiedliche Kategorien als Bezeichnungen drittens auch dahingehend zu reflektieren, dass diese „den Angesprochenen ins Sein [...] bringen“ (Butler, 2001, S. 91). Hieran anschließend können Überlegungen angestellt werden, welche alternativen Möglichkeiten ihres Nicht-/Gebrauchs entworfen werden können und wie dieser mit bestehenden schulischen Ordnungen zusammenhängen kann. Dies würde zum einen bedeuten sich auch der eigenen Involviertheit und Positioniertheit als angehende Lehrkraft in kategorialen Zuschreibungsprozessen bewusst zu werden. Zum anderen können (kategoriale) Bezeichnungen hinsichtlich ihrer Funktion in schulischen Ordnungspraxen und ihrer diskursiven Effekte für gesellschaftliche Machtverhältnisse und Platzierungsfragen in der Schule und im Unterricht befragt werden. Unsicherheiten in sprachlichen Bezeichnungen bei Akteur*innen in Schule und Hochschule sind als sprachliche Suchbewegungen zu verstehen und nicht aufgrund bestimmter Vorgaben, z. B. in politischen Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, auf deren vermeintliche Fehlerhaftigkeit hinzuweisen, sondern in ihrer Unterschiedlichkeit produktiv für Auseinandersetzungen in Seminaren zu nutzen. [39]

In zukünftigen Studien können die bisher vor allem erhobenen Gesprächsdaten ergänzt werden durch in situ Studien mit weiteren Datensorten, z. B. ethnographischen Protokollen, mit denen Involvierungsprozesse (Wrana, 2012) von Lehramtsstudierenden in schulische Praxiszusammenhänge mit Schüler*innen und begleitenden Lehrkräften beobachtet werden können. Die gesteigerten Erwartungen an Schulpraktika für Professionalisierungsprozesse angehender Lehrkräfte können in Bezug auf Fragen der Fortschreibung schulischer Ordnungen durch Kategorisierungen, z. B. durch betreuende Lehrkräfte in Praktikumssituationen, in den Blick genommen werden. [40]

Es liegt insgesamt eine Vielzahl an Studien der qualitativen Differenzforschung vor, die mit Gesprächsdaten und ethnographischen Beobachtungen arbeiten (Budde, 2018; Herzmann & Rabenstein, 2020; Sturm, 2018). Ich konzentriere mich auf einige wenige Studien, in denen Kategorien zum Forschungsgegenstand werden und zeige an diesen exemplarisch Desiderate für Fragen von Kategorisierungsprozessen auf.
Wenn ‚Kategorien‘ in der Forschung relevant werden, wird oftmals auch der Begriff ‚Klassifikation‘ genannt, der sich jedoch nur schwer von dem Begriff Kategorie abgrenzen lässt. In der Forschung werden beide Begriffe oft uneinheitlich verwendet (Zifonun, 2018). Die Gemeinsamkeit beider Begriffe besteht darin, „dass mit Sprache die Welt erschaffen, begriffen, geordnet und eingeteilt wird“ (Zifonun, 2018, S. 80). Da in diesem Beitrag Anschluss an die De-/Kategorisierungsdebatte genommen wird, wird der Begriff Kategorie verwendet.
Die Klammern mit drei Punkten kennzeichnen Auslassungen, die Klammern mit einem Punkt kurze Sprechpausen.
In der hier ausgelassenen Sequenz geht I1 kurz darauf ein, dass die Schüler*innen, von denen sie hier berichtet, temporär in Fördergruppen unterrichtet wurden

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Kontakt:

Marian Laubner, Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Erziehungswissenschaft, Waldweg 26, 37073 Göttingen
E-Mail: marian.laubner@stud.uni-goettingen.de

Zitation:

Laubner, M. (2022). Zum Gebrauch von Kategorien in studentischen Äußerungen über Inklusion. Ein empirischer Beitrag zur Differenzforschung. QfI - Qualifizierung für Inklusion, 3(2), doi:

Eingereicht:

15.04.2021