Transfer ist Arbeit und Lernen

Transfer builds on working and learning

Autor/innen

  • Herbert Altrichter Johannes Kepler Universität Linz

DOI:

https://doi.org/10.21248/qfi.34

Schlagworte/Keywords

Transfer, Arbeit, berufliches Lernen, Profession, transfer, work, vocational learning, profession

Zusammenfassung

Im Zuge der bemerkenswerten Weiterentwicklung der empirischen Bildungswissenschaften und des gestiegenen Drucks auf die Bildungssysteme, international vergleichbare Leistungen zu produzieren, werden verstärkt Ideen einer „Rationalisierung pädagogischer Tätigkeit durch wissenschaftliche Ergebnisse oder Prozeduren“ lanciert. Die Nutzung wissenschaftlichen Wissens im Praxissystem erfordert eine aktive Veränderung dieses Wissens im Sinne der Logik des Praxissystems durch die dort Handelnden. Der Austausch zwischen diesen Systemen verläuft nicht automatisch, nicht durch einfache Ab‑ und Anleitungen oder durch direkte Intervention von einem System ins andere, sondern er stellt sich als 'echter' Prozess dar, in dem aktiv Übersetzungsarbeit geleistet wird. Diese Übersetzungsarbeit ist nicht unproblematisch. Transaktionen zwischen den beiden Systemen erfordern erstens Einsatz und gesellschaftliche Arbeit von den Beteiligten; zweitens geschieht etwas mit dem Angeeigneten, mit dem 'wissenschaftlichen Wissen'.

Diese Transferprozesse sind Arbeit, weil sie Zeit und Energie von den Beteiligten erfordern; sie sind Lernen, weil sie die Beteiligten und deren Handlungspraxis verändern. Es geht um berufliches Lernen von Lehrpersonen und um dessen Einbettung in die Entwicklungsprozesse der Organisation und der Profession. Für den erst genannten Aspekt gibt es gute Hinweise in der Fortbildungsforschung und darauf aufbauende didaktische und organisatorische Modelle. Dabei wird auch die Verknüpfung individuellen Lernens mit den Entwicklungsprozessen der Einzelschule berücksichtigt. Weniger wurde bisher thematisiert, dass professionelles Lernen auch im Medium der Profession und ihren kulturellen, dienstrechtlichen und arbeitsorganisatorischen Bedingungen stattfindet. Eine lernförderliche Profession betreibt die Entwicklung eines Berufswissens, betreibt Professionsentwicklung, schätzt die Ideen und Entwicklungen ihrer Mitglieder und schafft Foren, in denen das Berufswissen kritisch hinterfragt und weiterentwickelt werden kann.

Abstract

In the course of the remarkable development of empirical educational research and the increased pressure on educational systems to produce internationally comparable results, ideas of "rationalising educational activities through scientific results or procedures" are increasingly being launched. The use of scientific knowledge in the practice system requires an active transformation of this knowledge in the logic of the practice system. The exchange between these systems is not automatic, not by simple abstractions and instructions or by direct intervention from one system to another. Transactions between the two systems require, firstly, commitment and active work by the participants; secondly, something happens to what is appropriated: 'scientific knowledge' is transformed.

These transfer processes are work because they require time and energy from the participants; they are learning because they change the participants and their practice – they are about professional learning of teachers and these processes are embedded in the development processes of the organisation and the profession. When it comes to organising professional learning, we are provided with reliable recommendations by recent research on teachers‘ professional development and its linkage with organisational processes of the individual school. Less attention has been paid to the fact that professional learning also takes place in the medium of the profession and its cultural, legal and work organisation conditions. A profession that promotes learning pursues the development of professional knowledge, pursues professional development, values the ideas and inventions of its members and creates forums in which professional knowledge can be critically questioned and further developed.

Downloads

Veröffentlicht

2020-09-30

Die Transfer-Hoffnung

Anlässlich einer Tagung des Netzwerks „Empiriegestützte Schulentwicklung“ (https://emse-netzwerk.de/) zum Thema „Praxistransfer Schul- und Unterrichtsforschung – Wie kann Transfer gelingen?“ haben Steffens, Heinrich und Dobbelstein (2016) eine Analyse vorgelegt, die im Wesentlichen besagt: Die Erwartungen in Hinblick auf die Nutzung von wissenschaftlichem Wis­sen in der Praxis, die ein wichtiges Element des Programms „evidenzbasierter Schulent­wicklung und Bildungspolitik“1 war, hat sich nicht in der erhofften Weise erfüllt. Ein Kernelement dieses Programms ist eine Idee der „Rationalisierung praktischer Tätigkeit“ durch die Verwendung des besten Wissens der empirischen Bildungsforschung in der schulischen Praxis. Diese Verwen­dung besten Wissens kann man sich gegenwärtig in zwei idealtypischen Modi vorstellen: (Typ 1) als ‚allgemeiner Rückgriff auf wissenschaftliches Wissen‘: Programme und praktisches Handeln von (individuellen und sozialen) Akteuren im Bildungswesen sollten auf der Basis wissenschaftlichen Wissens entwickelt werden und durch dieses begründet sein. (Typ 2) als ‚Bindung von Entwicklung an die Ergebnisse speziell für diesen Zweck entwickelter ‚evidenz­basierter Steuerungsinstrumente‘‘: Entscheidungen über die Weiterentwicklung dieser Pro­gramme und Praktiken sollten auf der Basis jener hochqualitativen Rückmeldungen über Systemtätigkeit und -leistungen fallen, die durch die neuen Monitoring- und Evaluations­instru­mente erbracht werden, die im Zuge evidenzbasierter Reformen aufgebaut wurden. [1]

Die prominentesten dieser ‚neuen Instrumenten evidenzbasierter Bildungspolitik und Schul­entwicklung‘ sind in den deutschsprachigen Ländern ‚Bildungsstandards und vergleichende Leistungstests‘ (vgl. Altrichter & Gamsjäger, 2017) sowie ‚neue Schulinspektionen‘ (vgl. Altrichter & Kemethofer, 2016). Sie funktionieren nach einer vergleichbaren Logik (vgl. Altrichter & Maag Merki, 2016, S. 21ff.): Prozess- und Leistungsziele für schulische Tätigkeit werden (als ‚Bildungsstandards‘ oder ‚Qualitätsrahmen von Inspektionen‘) aufgestellt und klar an die Akteure kommuniziert. Die bestehende Praxis wird laufend (durch ‚Lernstands­erhebungen‘ oder ‚Inspektionsteams‘) beobachtet und die Erreichung vorgegebener Ziele wird festgestellt. Die Rückmeldung dieser Informationen soll die jeweiligen praktischen Akteure (von der Bildungs­politik bis zur Lehrperson im Unterricht und vielleicht sogar die Lernenden in den Klassen­zimmern) zu Ist-Soll-Vergleichen anregen, die sie für die Weiterentwicklung ihrer Praxis sowohl motivieren als auch orientieren (d.h. in die richtige Richtung weisen). [2]

Mein Argument, das ich im Folgenden ausführen möchte, ist kurz gesagt, dass sich die Transfer­debatte – die Überlegungen, wie sich wissenschaftliche Rationalität im Lehrerhandeln nieder­schlagen soll – zu sehr auf das konzentriert hat, was von der Wissenschaft bzw. von aus ihr abgeleiteten wissenschaftsförmigen Instrumenten angeboten wird, und zu wenig auf jene Prozesse, durch die qualitätsvolles Lehrerhandeln entstehen soll. Oder graphisch veran­schaulicht: [3]

Auf der linken Seite befindet sich eine grüne horizontale Ellipse, welche mit einem „W“ in ihrer linken Ecke gekennzeichnet ist. Ein Pfeil in dieser Ellipse schließt sich an das „W“ an und deutet auf die folgende mittlere vertikale blaue Ellipse, welche in die grüne Ellipse hineinragt. Die sich in der Mitte befindende vertikale blaue Ellipse trägt auf ihrer Oberseite ein „L“ und ein darunter liegendes „SL“ in sich. Überschnitten wird die blaue Ellipse von der rechts angeordneten roten horizontalen Ellipse. Diese enthält in ihrer linken Ecke ein „L“ und einen sich anschließenden Pfeil, welcher auf ein „S“ in der rechten Ecke der roten Ellipse zeigt.
Abbildung 1: Dimensionen der Wissensnutzung

Die Aufmerksamkeit hat sich auf die Qualität des Angebots der Wissenschaften (beim Transfer des Typs 1) gerichtet bzw. auf die Qualität der Rückmeldungen durch die neuen evidenz­basierten Instrumente (beim Transfer des Typs 2) – in Abb. 1 symbolisiert durch die erste Ellipse auf der rechten Seite. Sie hat sich weniger darauf gerichtet, durch welche Prozesse Lehrper­sonen dieses Wissen oder diese Rückmeldungen verarbeiten und es zur Ausbildung neuer Handlungen nutzen, neuer Handlungen im Sinne veränderter Unterrichtsorganisation und Didaktik (in Abb. 1 durch die Ellipse auf der linken Seite dargestellt). Und sie hat sich auch weniger auf die schulinternen Verarbeitungsprozesse gerichtet (die mittlere Ellipse in Abb. 1): Die Rückmeldungen von Schulinspektionen und von Bildungsstandarderhebungen werden üblicher­weise zunächst an Schulleitungen kommuniziert. Dafür Aufmerksamkeit zu erreichen, eine geteilte Analyse herbeizuführen, Prozesse der Entwicklungsplanung in Gang zu bringen und deren Umsetzung zu managen, ist keine triviale Aufgabe. [4]

Kurz gesagt: Einfallsreichtum und Aufmerksamkeit der aktuellen Steuerungsreformen waren auf die Produktionsseite des Wissens gerichtet und weniger auf die Nutzungsseite und ihre spe­ziellen Bedingungen, zu denen nicht zuletzt organisatorische und didaktische Kompetenzen der Lehrpersonen sowie Entwicklung ermöglichende arbeitsorganisatorische Bedingungen ge­hören. [5]

Wissensverwendung

Bei der Frage nach dem ‚Transfer‘ handelt es sich um die aktuelle Version eines Problems, das die Entwicklung der Wissenschaft schon lange Zeit begleitet. Es wurde und wird in der Päda­gogik als Theorie-Praxis-Problem diskutiert, aber auch in anderen Sozialwissenschaften thematisiert. In den 1980er Jahren richtete die DFG ein breit angelegtes Forschungsprogramm ein, das die gesellschaftliche Verwendung sozialwissenschaftlicher Ergebnisse untersuchen sollte (vgl. Beck & Bonß, 1989; Altrichter, Kannonier-Finster, & Ziegler, 2005) und letztlich bei folgendem Konzept der Aufnahme wissenschaftlichen Wissens in Praxissystemen anlangte: Die Nutzung wissenschaftlichen Wissens im Praxissystem erfordert eine aktive Veränderung dieses Wissens im Sinne der Logik des Praxissystems durch die dort Handelnden. [6]

Das Argument von Beck und Bonß (1989) bricht mit dem Bild der „Anwendung“ wissenschaf­tlichen Wissens und betont die Eigengesetzlichkeit des Aneignungsprozesses im Sinn einer Transformation oder Reinterpretation. Das 'Nebeneinander' von Theorie und Praxis wird einer­seits als ein Verhältnis relativer Autonomie der sozialen Systeme Wissenschaft und Praxis ver­standen. Und andererseits sind die Beziehungen zwischen diesen Systemen nicht nur als einfache Transaktionen, sondern als komplexe Transformationsprozesse zu beschreiben. Der Austausch zwischen diesen Systemen verläuft nicht automatisch, nicht durch einfache Ab‑ und Anleitungen oder durch direkte Intervention von einem System ins andere, sondern er stellt sich als Prozess dar, in dem aktiv Übersetzungsarbeit geleistet wird. Diese Übersetzungsarbeit erfolgt nicht unproblematisch. Transaktionen zwischen den beiden Systemen sind eben 'echte' Prozesse, die erstens Einsatz und gesellschaftliche Arbeit von den Beteiligten erfordern und in denen zweitens etwas mit dem Ausgetauschten, in unserem Fall zunächst: mit der 'Theorie', geschieht. [7]

Modelle der Theorie-Praxis-Transformation

Wie wird Transfer aktuell im Bildungswesen gefördert? Begriffe wie ‚Steuerungswissen‘ haben die Vorstellung nahe gelegt, dass man bestimmte Wissensformen suchen müsse, die praktische Nutzung stimulieren oder nach sich ziehen würden. Natürlich kann man wissenschaftliches Wissen dunkel oder/und unzugänglich formulieren. Und doch scheint nicht in der Formulierung wissenschaftlicher Ergebnisse das Hauptproblem der praktischen Nutzung von Wissen zu liegen. Die Ergebnisse der Datenfeedbackforschung zeigen vielmehr, dass es in der Zwischen­zeit weithin gelungen ist, die Ergebnisse von Lernstandserhebungen so zu kommunizieren, dass sie von der Mehrzahl der Lehrkräfte als verständlich eingeschätzt werden (vgl. Altrichter, Moosbrugger, & Zuber, 2016, S. 253f.). [8]

Das Hauptproblem der Datennutzung liegt vielmehr in der Gestaltung dieser ‚komplexen Trans­formationsprozesse‘ im Feld der Praxis. Diese Transferprozesse sind Arbeit, weil sie Zeit und Energie von den Beteiligten erfordern; sie sind Lernen, weil sie die Beteiligten und deren Handlungspraxis verändern werden. Welche Modelle für solches berufliches Lernen, das die ‚Rationalität‘ pädagogischer Berufstätigkeit erhöhen soll, liegen vor? [9]

Unterrichts- und Schulentwicklung durch Datenfeedback

Eines der am weitesten verbreiteten aktuellen Instrumente evidenzbasierter Steuerung besteht in der vergleichenden Messung von Kompetenzdaten (die sich oft an ‚Bildungsstandards‘ orien­tieren) und ihrer Rückmeldung an das Praxissystem (vgl. Altrichter & Gamsjäger, 2017). Dabei wird die Rückmeldung von Daten (z.B. der Lernstandserhebungen; Inspektionsberichte folgen einer ähnlichen Logik) als wesentliches Movens für Entwicklung angesehen: Die Rückmeldung von erzielten Leistungen soll bei den Akteuren Ist-Soll-Vergleiche bezüglich ihrer eigenen Praxis auslösen. Dabei auftretende Diskrepanzen zwischen den Zielen und dem real Erreichten sollen dann wieder Handlung motivieren und anzeigen, in welche Richtung Verbesserungshandlungen gehen müssen. [10]

Die Effekte von Datenfeedback auf die Unterrichtsentwicklung sind in deutschsprachigen Schul­systemen gut erforscht und werden als unbefriedigend angesehen (vgl. Altrichter et al., 2016; Maier & Kuper, 2012): Lehrpersonen nehmen Datenrückmeldungen seltener als erhofft als Anstoß für Veränderungen in ihrem Unterricht; und wenn sie dies tun, dann umfasst die Unter­richtsentwicklung eher maßvolle Anpassungen denn grundlegende Veränderungen. Warum ist dies der Fall? [11]

Interpersonelles Feedback ist relativ gut erforscht. Meta-Analysen (vgl. Hattie & Timperley, 2007; Kluger & DeNisi, 1996) zeigen, dass Feedback einen positiven Effekt auf die Leistung haben kann, aber nicht unter allen Umständen. Offenbar hängt die Wirksamkeit von Feedback für nachfolgende Handlungen von bestimmten Merkmalen des Feedbacks sowie der Rezeptions- und Nutzungssituation ab (vgl. Altrichter et al., 2016, S. 263ff.). Viele schulische Datenfeedback-Modelle scheinen einige dieser Bedingungen für die Wirksamkeit von Rück­meldungen nicht zu erfüllen (Coe & Visscher, 2002, S. 247ff.): Sie bieten meist keine spezi­fischen Cues, die die Aufmerksamkeit auf den weiteren Entwicklungsprozess und Verbes­serungsmöglichkeiten lenken, sondern häufig Vergleiche mit anderen Schulen oder anderen Vergleichsgruppen, die oft „Selbstwert“-bezogen interpretiert werden. Sie stellen ihren Nut­zer /inne/n meist sehr komplexe Aufgaben und können eine Selbstwertbedrohung enthalten, wenn sie Teil eines konsequenzenreichen Accountability-Systems sind. [12]

Die Idee, dass Lehrpersonen Feedback über Schülerleistungen zur Unterrichtsentwicklung verwenden, basiert auf einem unüblichen Verständnis von Feedback: Lehrpersonen erhalten Feedback über die Leistungen anderer Personen und sollen daraus Schlüsse für ihr eigenes Verhalten ziehen. Externe, oft als Kontrolle verstandene Mechanismen sollen interne Opera­tionen auslösen; Schüler/innen – oder (z.B. bei der Teaminspektion) die Schule – werden evaluiert, einzelne Lehrer/innen sollen handeln (vgl. O'Day, 2004). Tatsächlich zeigte sich bei Schneewind (2007, S. 229; vgl. auch Schildkamp & Ehren, 2012), dass die befragten Lehr­personen häufig die Sichtweise vertreten, „die Tests haben die Leistung der Kinder getestet und nicht die Leistung der Lehrerinnen. Daher bieten – in der Wahrnehmung der Lehrerinnen – die Rückmeldungen nur Informationen über die Schülerinnen und Schüler an, nicht jedoch über das pädagogische Handeln der Lehrerin.“ Ihre Konsequenz besteht daher allenfalls in Indivi­dual­förderung, nicht jedoch in Unterrichtsentwicklung. [13]

Die Stärke des Feedback-Modells liegt im Bereich der adaptiven Verhaltensanpassung; es ist eher für Fälle geeignet, in denen die Fähigkeiten, in einer bestimmten Weise zu handeln, an sich da sind, aber für spezifische Situationen adaptiert werden müssen. Wenn die durch die Bildungsstandards-Politik nahe gelegte „Kompetenzorientierung“ aber tatsächlich eine unter­richtspraktische Revolution ist, wie von der Bildungspolitik oft behauptet, dann ist zu erwarten, dass alternative didaktische Praktiken im Repertoire von Lehrpersonen in sehr unterschied­lichem Maße vorhanden sind, um neues Verhalten angesichts von Datenfeedback zu produ­zieren (vgl. Dubs, 2006). [14]

Die durch Datenfeedback bereitgestellten Informationen können nicht einfach für die Unter­richtsentwicklung „angewendet“ werden, sondern es bedarf eines aktiven Aneignungs- und Um­wandlungsprozesses durch die Rezipient/inn/en, um Handlungskonsequenzen aus dem Daten­feedback zu erarbeiten. Jeder Wissenstransfer erfordert eine „Transformation des Wissens“, die „auf der Grundlage institutionell präformierter und im alltagspraktischen Gebrauch stabilisierter Deutungs- und Interpretationsmuster“ (Kuper, 2005, S. 99) geschieht. [15]

Professionelles Lernen

Damit befinden wir uns aber wieder in einem ‚einheimischen‘ Bereich: Es geht um berufliches Lernen von Lehrpersonen. Dazu müssten Bildungsforscher/innen eigentlich etwas wissen. Vor­aus­schicken muss man wohl, dass ein one size fits all-Modell wahrscheinlich nicht genügt: [16]

Einerseits sind die notwendigen Praxisveränderungen in unterschiedlichen Schulen und bei unterschiedlichen Lehrpersonen wahrscheinlich unterschiedlich komplex:

  • Für manche Lehrpersonen ergeben sich aus neuen Wissensangeboten und aktuellen Rückmeldungen über ihren Unterricht vielleicht tatsächlich leichte Anpassungs­möglich­keiten, die sie mit spezifischer Rückmeldung, ihrem bisherigen didaktischen Repertoire und vielleicht etwas kollegialem Coaching bewältigen können.

  • Für andere sind allerdings möglicherweise tiefergehende Veränderungsprozesse ange­zeigt, die vielleicht die Veränderungen tiefsitzender Einstellungen erfordern, zu denen sie noch nicht die notwendigen Kompetenzen aufgebaut haben (und die sie auch nicht leicht aus ihrem bisherigen Repertoire extemporieren können; vgl. Dubs, 2006). Dass solche tiefer gehenden Prozesse erforderlich sein können, sollte uns nicht verwundern, ist doch die Bildungsstandardreform z.B. in Österreich als ‚Paradigmenwechsel im Unterricht‘ propagiert worden. [17]

Andererseits tritt verhaltenveränderndes Lernen bei unterschiedlichen Personen in unterschied­licher Form auf: Es gibt sicherlich auch Personen, die aus der Lektüre eines Buches oder dem Zuhören eines Vortrags aus dem Radio oder eines MOOC realisierbare Hinweise auf Ver­haltensveränderung ziehen können. Die Mehrheit der Lehrpersonen ist das aber sicher nicht. [18]

Es geht also um berufliches Lernen von Lehrpersonen. In den letzten Jahren hat die Fort­bildungsforschung deutliche Fortschritte gemacht. Wenn es um nachhaltiges Lernen von Lehr­personen geht, dann werden meist die folgenden Qualitätsmerkmale von Fortbildung genannt (Lipowsky & Rzejak, 2014; Timperley, Wilson, Barrar, & Fung, 2007): [19]

Qualität des Lernprozesses der Lehrpersonen – Verbindung von Wissen, Handeln und Re­flexion: Fortbildungssituationen müssen Lehrpersonen erlauben, sich längerfristig und in einer Vielfalt methodischer Settings mit beruflichen Problemen auseinanderzusetzen. Diese Fort­bildungsarrangements ermöglichen auch fremdes (wissenschaftliches), eigenes (subjektives) Wissen und tatsächliches Handeln in Verbindung zu bringen sowie grundlegende Über­zeugungen und eingespielte Handlungspraktiken kritisch zu hinterfragen. [20]

Bezug zum Unterricht – Das Lernen der Schüler/innen in den Blick nehmen: Solche Fort­bil­dungssituationen haben einen klaren Bezug zur Unterrichtspraxis der Teilnehmer/innen, daher oft einen fachdidaktischen Fokus auf ausgewählte Prozesse des Lernens und Lehrens; sie erlauben den Teilnehmer/innen Feedback zu suchen und die Qualität und Wirksamkeit eigener Handlungspraxis zu reflektieren. [21]

Strukturelle Einbettung und Stimulierung koordinativer Beziehungen im System: Solche Fort­bildungen versuchen die (sich verändernde) Tätigkeit einzelner Lehrpersonen auf verschiedene Weise ‚systemisch‘ zu stützen: sie regen Kooperationen und Vernetzungen an, die über die Fortbildungsveranstaltung hinausgehen; sie ermutigen die Teilnahme mehrerer Lehrkräfte eines Standortes und arbeiten mit Schulleitungen an der Vorbereitung der back home Situation; sie bieten externe Unterstützung bei der Umsetzung der Fortbildungsinhalte an der Schule. [22]

Wenn wissenschaftliche Ergebnisse für Unterrichtspraxis ‚nützlich‘ werden sollen, dann braucht es solche Settings längerfristigen beruflichen Lernens, in denen Lehrpersonen Impulse aus der Wissenschaft aufnehmen und zu eigenem Wissen und Handlungspraktiken transformieren können. Dafür, wie man solche Fortbildungssituationen didaktisch gestalten und praktisch orga­nisieren kann, gibt es durchaus Beispiele (wie z.B. SINUS, PFL oder Lesson Studies; vgl. Krainer, 2007). Dass man sie gegenwärtig nicht öfter erleben kann, hängt u.a. mit anderen Ent­wicklungen im Bildungswesen zusammen, die solcher intensiven Lehrerfortbildung entgegen zu laufen scheinen, wie dem Versuch der Verminderung des Unterrichtsentfalls durch Lehrer­fortbildung oder dem Ausweichen auf kostengünstige Fortbildungssettings. Neuere Gutachten fordern hier ein Umdenken im Fortbildungssystem (Cramer, Johannmeyer, & Drahmann, 2019; Daschner & Hanisch, 2019; Gnahs, Altrichter, Baumgart, Jung-Sion, & Pant, 2019; Priebe, Böttcher, Heinemann, & Kubina, 2019). [23]

Ein solches Bild von Lehrerlernen impliziert aber auch, dass Lernen nicht nur in distanzierten Fortbildungssettings geschieht, sondern auch und nicht zuletzt im Beruf und in der profes­sionellen Umgebung der eigenen Schule. Die dienstrechtlichen und arbeitsorganisatorischen Bedingungen der Lehrerarbeit müssten in diesem Sinne auch dafür sorgen, dass Unter­richts­entwicklung (im Sinne der Vorbereitung eigenen Unterrichts und der Reflexion von Unterrichts­erfahrung) eben nicht nur individuelle Aufgabe ist, sondern ein institutionelles Merkmal der Lehrerarbeit, die auch in der schulischen Arbeitsverteilung und Arbeitsorganisation zum Ausdruck kommt. Das bedeutet, dass im Arbeitsalltag auch Zeit für Reflexion und gemeinsame Entwicklung vorgesehen werden muss, die dann auch solche Dinge wie gemeinsame Curri­culum-Entwicklung, Professionelle Lerngemeinschaften oder Lesson Studies (vgl. Bonsen & Frey, 2014) erlauben würde. [24]

Schließlich geschieht professionelles Lernen nicht nur in Fortbildungskursen und am eigenen Standort, sondern findet auch im Medium der Profession statt. Eine lernförderliche Profession betreibt die Entwicklung eines Berufswissens, betreibt Professionsentwicklung, schätzt die Ideen und Entwicklungen ihrer Mitglieder und schafft Foren, in denen das Berufswissen kritisch hinterfragt und weiter entwickelt werden kann. Es ist fraglich, ob diese Aufgaben durch die be­stehenden Lehrervereine und -organisationen geleistet werden können, die oft stark auf die rechtlichen und ökonomischen Bedingungen der Berufstätigkeit orientiert sind (was notwendig und wichtig ist), aber dem Berufswissen der Lehrpersonen und dessen Weiterentwicklung zu wenig Aufmerksamkeit schenken. [25]

Anmerkung

Bei diesem Text handelt es sich um eine für den Vortrag beim Symposium „Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte für inklusive Bildung“ (Frankfurt, 01.10.2019) leicht adaptierte Version von Altrichter (2019). [26]

Sowohl bei Kritiker/innen als auch bei Proponent/Innen findet sich in letzter Zeit häufig das Argument, dass Reformen und Praktiken, die unter der Marke der ‚Evidenzbasierung‘ auftreten, dem Anspruch der Fundierung in ‚Forschungsevidenz‘ nicht voll genügen und daher anders benannt werden sollten (z.B. Bellmann 2016). Dessen ungeachtet wird auf der Ebene der Reformpolitiken, auf die sich diese Analyse bezieht, weiterhin mit diesem Label gearbeitet.

Literatur

  1. Altrichter, H. (2019). Transfer ist Arbeit und Lernen. In C. Schreiner, S. Breit, C. Wiesner, P. Dobbelstein, M. Heinrich & U. Steffens (Hrsg.), Praxistransfer Schul- und Unterrichtsentwicklung (S. 27–33). Münster: Waxmann.
  2. Altrichter, H. & Gamsjäger, M. (2017). A conceptual model for research in performance standard policies. Nordic Journal of Studies in Education Policy, 3(1), 6–20.
  3. Altrichter, H., Kannonier-Finster, W. & Ziegler, M. (2005). Das Theorie-Praxis-Verhältnis in den Sozialwissenschaften im Kontext professionellen Handelns. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 30(1), 22–43.
  4. Altrichter, H. & Kemethofer, D. (2016). Stichwort: Schulinspektion. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 19(3), 487–508.
  5. Altrichter, H. & Maag Merki, K. (2016). Steuerung der Entwicklung des Schulwesens. In H. Altrichter & K. Maag Merki (Hrsg.), Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem (S. 1–27). Wiesbaden: Springer VS.
  6. Altrichter, H., Moosbrugger, R. & Zuber, J. (2016). Schul- und Unterrichtsentwicklung durch Datenrückmeldung. In H. Altrichter & K. Maag Merki (Hrsg.), Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem (S. 235–277). Wiesbaden: Springer VS.
  7. Beck, U. & Bonß, W. (1989). Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? Zum Strukturwandel von Sozialwissenschaft und Praxis. In U. Beck & W. Bonß (Hrsg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens (S. 7–45). Frankfurt/Main: Suhrkamp.
  8. Bellmann, J. (2016). Datengetrieben und/oder evidenzbasiert? Wirkungsmechanismen bildungspolitischer Steuerungsansätze. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 19(1), 147–161.
  9. Bonsen, M. & Frey, K. A. (2014). Lernen im Kontext des eigenen Unterrichts. Lernende Schule, 17(68), 13–15.
  10. Coe, R. & Visscher, A. J. (2002). Drawing up the balance sheet for school performance feedback systems. In A. J. Visscher & R. Coe (Hrsg.), School improvement through performance feedback (S. 221–254). London: Routledge.
  11. Cramer, C., Johannmeyer, K. & Drahmann, M. (Hrsg.). (2019). Fortbildungen von Lehrerinnen und Lehrern in Baden-Württemberg. Tübingen: Universität.
  12. Daschner, P. & Hanisch, R. (Hrsg.). (2019). Lehrkräftefortbildung in Deutschland. Bestandsaufnahme und Orientierung. Weinheim: Beltz Juventa.
  13. Dubs, R. (2006). Bildungsstandards: Das Problem der schulpraktischen Umsetzung. Netzwerk – Die Zeitschrift für Wirtschaftsbildung, 1, 18–29.
  14. Gnahs, D., Altrichter, H., Baumgart, K., Jung-Sion, J. & Pant, H. A. (2019). Evaluation der Lehrerfortbildung in NRW – Stellungnahme der Expertengruppe: Gutachten für das Schulministerium. Abgerufen unter: https://www.schulministerium.nrw.de/docs/bp/Ministerium/Presse/Pressemitteilungen/2019_17_LegPer/PM20191028_Evaluation-Lehrerfortbildung/Expertenbericht_Lehrerfortbildung.pdf.
  15. Hattie, J. & Timperley, H. (2007). The Power of Feedback. Review of Educational Research, 77(1), 81–112.
  16. Kluger, A. N. & DeNisi, A. (1996). The effects of feedback interventions on performance: a historical review, a meta-analysis, and a preliminary feedback intervention theory. Psychological Bulletin, 119(2), 254–284.
  17. Krainer, K. (2007). Die Programme IMST und SINUS: Reflexionen über Ansatz, Wirkungen und Weiterentwicklungen. In D. Höttecke (Hrsg.), Naturwissenschaftliche Bildung im internationalen Vergleich (S. 20–48). Münster: Lit Verlag.
  18. Kuper, H. (2005). Evaluation im Bildungssystem. Stuttgart: Kohlhammer.
  19. Lipowsky, F. & Rzejak, D. (2014). Lehrerfortbildungen lernwirksam gestalten. Lernende Schule, 17(68), 9–12.
  20. Maier, U. & Kuper, H. (2012). Vergleichsarbeiten als Instrumente der Qualitätsentwicklung an Schulen. Überblick und Forschungsstand. Die deutsche Schule, 104(1), 88–99.
  21. O’Day, J. A. (2004). Complexity, Accountability, and School Improvement. In S. H. Fuhrman & R. F. Elmore (Hrsg.), Redesigning Accountability Systems for Education (S. 15–43). New York: Teachers College Press.
  22. Priebe, B., Böttcher, W., Heinemann, U. & Kubina, C. (Hrsg.). (2019). Steuerung und Qualitätsentwicklung im Fortbildungssystem. Hannover: Klett Kallmeyer.
  23. Schildkamp, K. & Ehren, M. C. M. (2012). From “Intuition”- to “Data”-based Decision Making in Dutch Secondary Schools?. In K. Schildkamp, M. Lai & L. Earl (Hrsg.), Data-based Decision Making in Education: Challenges and Opportunities (S. 49–67). Dordrecht: Springer.
  24. Schneewind, J. (2007). Wie Lehrkräfte mit Ergebnisrückmeldungen aus Schulleistungsstudien umgehen [Dissertation]. Berlin: Freie Universität. Abgerufen unter: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000002819.
  25. Steffens, U., Heinrich, M. & Dobbelstein, P. (2016). Praxistransfer Schul- und Unterrichtsforschung – eine Problemskizze: Vorlage für die 22. EMSE-Tagung am 30. Juni bis 1. Juli 2016 am BIFIE in Salzburg. Bielefeld.
  26. Timperley, H., Wilson, A., Barrar, H. & Fung, I. (Hrsg.). (2007). Teacher professional Learning and Development. Best Evidence Synthesis Iteration (BES). Wellington: New Zealand: Ministry of Education.

Kontakt:

Herbert Altrichter, Johannes Kepler Universität Linz, Linz School of Education, Altenberger Straße 69, 4040 Linz, Austria
E-Mail: herbert.altrichter@jku.at

Zitation:

Altrichter, H. (2020). Transfer ist Arbeit und Lernen. QfI - Qualifizierung für Inklusion, 2(2), Sonderheft: Wissenstransfer, doi:

Eingereicht:

28.01.2020