Pädagogische Diagnostik als Transfer-Herausforderung. Zum Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis unter Berücksichtigung von Bildungsadministration und -politik.

Pedagogical diagnostics as a transfer challenge. On the field of tension between science and practice, taking into account educational administration and policy.

Autor/innen

  • Simone Breit Pädagogische Hochschule Niederösterreich, Department Elementarpädagogik

DOI:

https://doi.org/10.21248/qfi.37

Schlagworte/Keywords

Diagnostik, Transfer, Elementarpädagogik, Wissenschaft, Praxis, diagnostics, transfer, elementary pedagogy, science, practice

Zusammenfassung

Der Beitrag beleuchtet eingangs die Tatsache, dass Diagnostik vor dem Hintergrund des Leitgedankens Inklusion und des professionellen Umgangs mit Heterogenität als zentrales Handlungsfeld der elementaren Bildungspraxis gilt. Dennoch existiert kein einheitlicher Begriff der Pädagogischen Diagnostik in der Elementarpädagogik, weil die Diskussion über Instrumente der Pädagogischen Diagnostik oftmals normativ und polarisierend geführt wird. Die Überwindung des Entweder-oder und das Etablieren eines Sowohl-als-auch wird dadurch erschwert. Hinzu kommt ein Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis: Da Instrumente der Pädagogischen Diagnostik häufig Produkte der Wissenschaft sind, unterziehen sie sich im Prozess der Nutzung in der Praxis einem Transformationsprozess, weswegen Pädagogische Diagnostik als Transfer-Herausforderung beschrieben wird. Um dieser adäquat zu begegnen, erscheint vorab ein gemeinsamer Aushandlungsprozesses zwischen wissenschaftlichen Ansprüchen und Pragmatik der praktischen Anwendung notwendig. Die Bildungsverwaltung bzw. Bildungspolitik tritt darüber hinaus häufig als dritter Akteur in Form des Auftraggebers/der Auftraggeberin auf. Eine solche Konstellation führen zu neuen Dynamiken und Machtkonstellationen. Ausgehend von diesen Problemlagen beleuchtet der Beitrag, wie es gelingen kann, dass Pädagogische Diagnostik das Potential für Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte nutzt. Die Autorin kommt zum Schluss, dass dies dann der Fall ist, wenn die Wissenschaft Unterstützung bei der Bewältigung „echter“ Probleme im Praxisfeld bereitstellt.

 

Abstract
The article starts with highlighting the fact that, against the background of the guiding principle of inclusion and the professional handling of heterogeneity, diagnostics is considered a central field of early childhood educational. Nevertheless, there is no uniform concept of pedagogical diagnostics in early childhood education, because the discussion about instruments of peda­gogical diagnostics is often normative and polarizing. This makes it more difficult to overcome the "either-or" and to establish a "as well as" approach. In addition, there is a field of tension between science and practice: Since instruments of Pedagogical Diagnostics are often products of science, they undergo a transformation in the process of their use in practice, which is why Pedagogical Diagnostics is described as a transfer challenge. In order to meet this challenge adequately, a joint negotiation process between scientific demands and pragmatics of practical application seems necessary. Furthermore, the educational administration or policy makers often act as a third party in the form of the customer. Such a constellation leads to new dynamics and power constellations. Based on these challenges, this article examines how pedagogical diagnostics can successfully use the potential for professionalisation of pedagogical staff. The author concludes that this is the case when science provides support in dealing with "real" problems in the field of practice.

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Veröffentlicht

2020-09-30

Pädagogische Diagnostik – ein vielschichtiger Begriff

Diagnostik ist vor dem Hintergrund des Leitgedankens Inklusion und des professionellen Umgangs mit Heterogenität ein zentrales Handlungsfeld der elementaren Bildungspraxis. [1]

Wir leben in einer Welt, in der Heterogenität als prägendes Merkmal unserer Gesellschaft akzeptiert wird. Heterogenität wird vielfach als ein außerhalb der Bildungsinstitutionen und der Erziehungspraxis erzeugter realer Sachverhalt verstanden, auf den das Bildungssystem reagieren muss (Hormel, 2017, S. 24). In diesem Sinnen bezieht sich Heterogenität auf soziale Merkmale der Kinder. Unterschiede finden sich unter anderem in… [2]

  • den sozialen Lebenslagen von Kindern (Kindheit in Ein-Eltern-Familien, Kleinfamilien, Großfamilien, Patchworkfamilien, Regebogenfamilien u.a.),

  • der sozioökonomischen Situation (Kinder in Armutslagen bis hin zu Kindern, denen es materiell an nichts mangelt; Kinder, deren Eltern ohne Arbeit sind bis hin zu Kindern, deren Eltern beide Vollzeit berufstätig sind),

  • den sprachlich-kulturellen Wurzeln (deutliche Zunahme von Kindern, deren Familien Migrationserfahrung haben, die im familiären Umfeld eine andere Sprache als Deutsch sprechen, deren Rituale, Traditionen und Feste durch außereuropäische Kulturen geprägt sind),

  • im Alter der Kinder (die zunehmend auch vor dem 3. Lebensjahr institutionell betreut werden) sowie der Verweildauer der Kinder in den Einrichtungen (mit klarem Trend zur ganztägigen Betreuung). [3]

Diese Differenz in den Erfahrungen und Lebensumständen setzt sich fort in unterschiedlichen Fähigkeiten, Interessen, Neigungen, Begabungen, Potentialen, womit der zweite Aspekt der Heterogenität umrissen wird, jener der Lernvoraussetzung (Hormel, 2017). Unterschiedliche Entwicklungstempi und -zonen kennzeichnen den pädagogischen Alltag in der elementaren Bildung. Diese Vielfältigkeit macht es nötig, als Pädagogin bzw. Pädagoge jedes Kind in seiner Einzigartigkeit zu beachten, seine bevorzugten Handlungen, sein Verhalten, seine Beziehungen zu beobachten. So macht die Heterogenität Diagnostik zu einem festen Bestandteil des pädagogischen Alltags. Aus „Informationen über die Beschaffenheit“ der jeweiligen Gruppe sollen „Orientierungspunkte für das pädagogische Handeln“ abgeleitet werden (Hormel, 2017, S. 23). [4]

Auch der Index für Inklusion, der sich mit Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung befasst (Booth, Ainscow, & Kingston, 2006), thematisiert in der Dimension „Eine inklusive Praxis entwickeln“ den Stellenwert von Pädagogischer Diagnostik, die im Indikator C.1.8 als „Tests“ subsumiert werden. Während der Indikator „Tests unterstützen die Leistungen aller Kinder“ noch keine Hinweise darauf bietet, wie damit die Gestaltung des Spiels und des Lernens zusammenhängen, bieten die Evaluationsfragen Hinweise darauf, dass mit ,Tests‘ Verfahren der Pädagogischen Diagnostik insgesamt gemeint seien und hier insbe­sondere eine ganzheitliche Entwicklungsdiagnostik inkl. hoher kindlicher Beteiligung wie beim Portfolio gemeint sind. [5]

An dieses Beispiel, das von terminologischer Undifferenziertheit zeugt, knüpft die Frage an, was im Bildungskontext eigentlich unter Diagnostik bzw. Pädagogischer Diagnostik verstanden wird. Der Begriff der Pädagogischen Diagnostik ist schulpädagogisch geprägt, wie die Definition von Ingenkamp und Lissmann (2008, S. 13) im Lehrbuch Pädagogische Diagnostik zeigt: [6]

Pädagogische Diagnostik umfasst alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Lernenden und den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen plan­mäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse fest­gestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren. Zur Pädagogischen Diagnostik gehören ferner die diagnostischen Tätigkeiten, die die Zuweisung zu Lerngruppen oder zu individuellen Förderungsprogrammen ermöglichen sowie die mehr gesellschaftlich veran­kerten Aufgaben der Steuerung des Bildungsnachwuchses oder der Erteilung von Qualifika­tionen zum Ziel haben.

[7]

In Hinblick auf Zweck oder Funktion der Pädagogischen Diagnostik wird zwischen Förder- und Selektionsdiagnostik bzw. Prozess- und Ergebnisdiagnostik unterschieden: So will Ergebnis­diagnostik im Sinne einer summativen Erfolgsfeststellung „den Lernerfolg nach größeren Lerneinheiten erfassen“ (Ingenkamp & Lissmann, 2008, S. 32). Sie „zielt darauf, mit verschie­denen Formen der Leistungsmessung festzustellen, wie gut die Schülerinnen und Schüler den vermittelten Lerninhalt beherrschen“ (Buholzer, 2012, S. 98). Ergebnisdiagnostik informiert die Lehrperson „über den Lernerfolg in umfangreicheren Lerneinheiten“ (Ingenkamp & Lissmann, 2008, S. 32) und dient als Grundlage der Vergabe von Berechtigungen bzw. als Grundlage der Bildungswegberatung. Formative Diagnostik bzw. Förderdiagnostik oder prozessorientierte Diagnostik „stellt hingegen die Erfassung und Beurteilung des individuellen Lernprozesses in den Vordergrund“ (Buholzer, 2012, S. 99). Lernprozessbegleitend soll festgestellt werden, „über welche Fähigkeiten die Schülerinnen und Schüler bereits verfügen und welche Lernschritte als nächstes angebahnt und unterstützt werden können“ (Buholzer, 2012, S. 99). Prozess­diagnostik dient also dazu, den Lernverlauf durch häufige Erhebungen möglichst genau abzu­bilden und alle Informationen aus der Verlaufsdiagnose gezielt für die Förderung und Zuweisung zu Lerngruppen oder Förderprogrammen zu nutzen (Buholzer, 2012, S. 99). [8]

Anders als im schulischen Kontext ist im Praxisfeld der elementaren Bildung die Anforderung der Vergabe von Berechtigungen an Pädagoginnen und Pädagogen nicht gestellt. Die Defini­tionen aus dem Bereich der Schulpädagogik können daher nicht unreflektiert für den Bereich der Frühpädagogik übernommen werden. Wir haben es also bereits hier mit einer Transforma­tion des Begriffs zu tun, bei der die Selektionsfunktion in den Hintergrund und die Förderunktion in den Vordergrund rückt. Denn was die Bildungsrahmenpläne (in Österreich wie Deutschland) jedenfalls fordern, ist Pädagogische Diagnostik als Ausgangspunkt pädago­gischen Planens und Handelns. Wer die Themen und Entwicklungen von Kindern aufmerksam wahrnimmt – so die unterstellte Logik –, kann die Bildungs- und Entwicklungspotenziale unterstützen. So wird Päda­gogische Diagnostik zur Grundlage intentionaler Lernarrangements (Kasüschke, 2016, S. 104f.; Koch, 2019) in der elementaren Bildung. Die Beobachtung und Dokumentation kind­lichen Tuns wird dann als Ausdruck professioneller Organisationen verstanden. [9]

Da die schulpädagogische Definition teilweise nicht zutreffend ist, folgt nun eine frühpädago­gische Definition nach Roos (2018, S. 428): [10]

Unter Diagnostik im frühkindlichen und Elementarbereich […] werden alle beurteilenden Tätigkeiten verstanden, mit denen pädagogische Fachkräfte in Krippen, Kindergärten, Vorschulgruppen bzw. Kindertageseinrichtungen Entwicklungsstand, Lernausgangslagen, Lernprozesse und -ergebnisse junger Kinder erfassen, beschreiben […], analysieren, bewerten und bisweilen auch versuchen, auf Lehr-Lernbedingungen zurückzuführen.

[11]

Sie spricht damit die beschreibende wie erklärende Ebene von Diagnostik an. Glüer (2014, S. 295) sieht die Funktion Pädagogischer Diagnostik in der Frühpädagogik „sowohl im Sinne einer Förderdiagnostik als auch im Sinne einer Prognose, z. B. für die Vorhersage späterer Schulanpassungsschwierigkeiten“. Der Unterschied zwischen schulpädagogischer und früh­pädagogischer Betrachtung besteht also weniger in der Definition per se als in den Funktionen, die mit Diagnostik verknüpft sind. Dies bringen auch die folgenden Überlegungen zum Aus­druck: Schrader & Helmke (2014, S. 45f.) unterscheiden beispielsweise Beurteilungen expliziter und impliziter Natur. Wenn Pädagogische Diagnostik als explizite Form der Informations­gewinnung dient, ist sie vom unmittelbaren pädagogischen Geschehen abgehoben und ihre Auswertung sowie das Ergebnis und dessen Interpretation, für die eine Norm herangezogen wird, führen zu einem Urteil. Implizite Diagnosen hingegen finden während des pädagogischen Handelns permanent statt und die Beobachtungen der sich im Wandel begriffenen Lernvoraus­setzungen der Kinder fließen als ,Mikrodiagnosen‘ in den Lehr-Lernprozess zurück. Sie laufen vergleichsweise intuitiv ab und erfolgen eher unsystematisch, ungezielt und beiläufig in Form subjektiver Einschätzungen. Kretschmann (2004) plädiert dafür, Diagnostik in pädagogischen Handlungsfeldern als „Pädagnostik“ zu bezeichnen. Er versteht darunter die individualisierte, biografieorientierte Lernbegleitung durch Pädagoginnen und Pädagogen, die laufend erkunden, wo die Lernenden gegenwärtig stehen. Um Kinder durch lernprozessbegleitendes Feedback und individualisierte Förderung zu unterstützen, braucht es hohes Wissen über die Zone der nächsten Entwicklung. Der Begriff der Pädagnostik wird in Österreich von Hollerer propagiert und im Schuleingangsbereich anstelle von gruppenbezogenen und statusorientierten Lern­standserhebungen eingefordert (Hartel, Hollerer, Smidt, Walter-Laager, & Stoll, 2019). Dass die beiden Ausprägungen einander jedoch nicht ausschließen, sondern einander auf wichtige Weise ergänzen, stellen Hesse und Latzko (2017, S. 27) dar: Sie plädieren dafür, „subjektive, pädagogisch fruchtbare, handlungsleitende Lehrerdiagnosen“ und „objektive, auf Ergebnissen standardisierter Verfahren beruhende, erkenntnisleitende Urteile“ zu kombinieren. Dies könnte man auch auf die Elementarpädagogik umlegen und für diese als Standard im Praxisfeld einfordern. [12]

Aus den bisherigen Ausführungen wird evident, dass zwar weitgehend Übereinstimmung darin besteht, dass Diagnostik ein zentrales Handlungsfeld der elementaren Bildungspraxis ist. Ein einheitlicher Begriff der Pädagogischen Diagnostik existiert jedoch nicht. [13]

Methoden der Pädagogischen Diagnostik

Der erste Textabschnitt stellt umfassend dar, dass die Diskussion über Pädagogische Diagnostik oftmals normativ und polarisierend geführt wird. Die Überwindung des Entweder-oder (Selektionsidagnostik – Prozessdiagnostik, explizite Urteile – implizite Urteile, etc.) und das Etablieren eines Sowohl-als-auch wird dadurch erschwert. Dies zeigt sich im Folgenden auch bei der Betrachtung der methodischen Vorgehensweisen sowie anhand entsprechender Verfahren. [14]

Die Produktpalette der Pädagogischen Diagnostik ist äußerst groß und umfangreich. Dies trifft einerseits auf den schulischen Kontext zu: Hier wird der Bogen gespannt von Beobachtungen, Kompetenzrastern, Lerntagebüchern, Portfolios bis hin zu mündlichen und schriftlichen Prüfungen sowie Tests. Auch für die Elementarpädagogik liegt eine breite Palette wissen­schaftsgestützter Verfahren vor. Sie lassen sich grob in Befragungen (z. B. von Eltern), Beobachtungen und Tests unterscheiden. Dokumentiert wird mithilfe von Einschätzskalen, stan­dardisierten Bögen, Kompetenz- oder Entwicklungsrastern. Lerngeschichten nach Margaret Carr sowie Portfolios werden in Österreich zunehmend eingesetzt. Als Königsmethode der Frühpädagogik ist allen voran die Beobachtung zu nennen – sei es frei oder systematisch. Das Methodenrepertoire in österreichischen Einrichtungen wird teils vom Bund oder den Ländern (die eine entsprechende Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Kinderbetreuung haben) sowie im Falle größerer Träger von diesem vorgegeben (wobei Kommunen als öffentliche Träger oder private gemeinnützige oder kirchliche Träger in Frage kommen) und häufig einrichtungsspezifisch oder individuell durch die gruppenführende Pädagogin/den Pädagogen ergänzt. Auf den ersten Blick könnte man fast meinen, die Bandbreite an Verfahren und Instru­menten sei undurchsichtig, doch Schulz und Cloos (2013) bieten eine hilfreiche Systematik an. Sie unterscheiden prozessorientierte von kompetenzorientierten Verfahren (vgl. auch Viernickel, 2014) – und schließen damit auch bereits den Kreis zur Begriffsdiskussion. Geiling & Liebers (2014) verwenden den Begriff Assessments und unterscheiden zwischen jenen, die Entwicklungsrisiken und -störungen erkennen sollen und jenen, die der Lern- und Entwicklungs­begleitung dienen. [15]

Bei prozessorientierten Verfahren geht es darum, kindliche Bildungsprozesse zu verstehen und das kindliche Denken und Handeln nachzuvollziehen. Sie gehen von einem aktiv han­delnden und sich dabei bildenden Kind aus. Die Beobachtung richtet sich auf das Subjekt, seine Individualität und konkreten Lernbedürfnisse. Dazu folgt auf den Schritt der Beobachtung die Protokollierung, Interpretation und Rückkoppelung mit verschiedenen Akteuren. Als Proto­kollierungshilfen stehen Checklisten, Beobachtungsbögen oder Einschätzskalen zur Verfügung. Das Portfolio agiert sowohl als Dokumentation über das Kind bzw. als Dokumentation des Kindes. Als Dokumentation über das Kind umfassen Portfolios Ergebnissammlungen von Beobachtungen in Form von Lerngeschichten bzw. Notizen und Reflexionen zu pädagogischen Konsequenzen sowie Steckbriefe zur Persönlichkeit oder Lebenswelt des Kindes. Als Dokumentation des Kindes umfasst das Portfolio eigene Bilder und Zeichnungen, Fotos von selbst gefertigten Produkten und Aktionen inklusive einer Kommentierung. Die Zielstellung besteht darin, dass Kinder ihre Bildungsprozesse gemeinsam mit anderen verfolgen können, welche gleichzeitig Ausgangspunkt für Förderangebote sind. Diese Verfahren sind in hohem Grad in pädagogische Konzepte eingebettet, sind allerdings wissenschaftlich wenig abgesichert (Schulz & Cloos, 2013). [16]

Die kompetenzorientierten oder merkmalsbasierten Verfahren sind entwicklungs- bzw. kompetenztheoretisch fundiert. Sie verfolgen die Absicht, Kompetenzen in einzelnen oder mehreren Entwicklungsbereichen zu einem oder mehreren Zeitpunkten zu erheben, um Aussagen über Entwicklungsstand und -verlauf geben zu können und um – im Vergleich zu anderen Kindern – Entwicklungsgefährdungen abschätzen zu können. Hier unterscheiden sich allgemeine von spezifischen Verfahren, die sich hinsichtlich ihres Radius voneinander unter­scheiden. Hauptvertreter dieser Verfahren sind Testverfahren und weniger standardisierte und damit auch wissenschaftlich weniger abgesicherte Rating- bzw. Schätzverfahren (Schulz & Cloos, 2013). Roos (2018) unterscheidet allgemeine Entwicklungstests, die meist im Einzel-Setting unter standardisierten Bedingungen von Personen mit hoher diagnostischer Routine durchgeführt werden, und Screenings, die als Kurzform von Tests Orientierung über Auffällig­keiten liefern, sowie Beobachtungen, bei denen der aktuelle Entwicklungsstand sowie der nächste Entwicklungsmeilenstein, aber auch Entwicklungsfortschritte sowie Entwicklungs­risiken erfasst werden. Die Zugangsweise, die Roos beschreibt, ist bei allen Verfahrensformen kompetenzorientiert. [17]

Die Diskussion über Instrumente der Pädagogischen Diagnostik fällt deshalb so schwer, weil diese normativ und polarisierend geführt wird. Sind ausschließlich prozessorientierte Verfahren stärken- bzw. ressourcenorientiert? Sind kompetenzbasierte Verfahren automatisch defizitorientiert? Bei diesen Fragen kommt selten eine integrierende Sichtweise zum Tragen. Allerdings geht es gerade in der Praxis nicht um ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. In der Praxis gilt es die jeweiligen Vor- und Nachteile abzuwägen, sich der Chancen und Grenzen der einzelnen Verfahren bewusst zu sein und situationsspezifisch eine Kombination von Verfahren zu kreieren. Denn letzten Endes ist es ist immer der Blick der Erwachsenen, der Perspektive gebend ist. Es kann auch bei einem prozessorientierten Verfahren der Blick auf das Nicht-Können (z. B. vor dem Hintergrund nahender schulischer Anforderungen) gelenkt werden. Und es kann auch bei einem kompetenzorientierten Verfahren der Fokus darauf liegen, was schon „da“ ist, was bereits erworben, angebahnt wurde und wodurch sich die nächste Ent­wicklungszone charakterisieren lässt. Es liegt also am Zweck, der mit dem Einsatz eines Ver­fahrens verfolgt wird und am Umgang mit dem Instrument durch die Professionellen. [18]

Pädagogische Diagnostik im Spannungsfeld von Wissenschaft und Praxis

Instrumente der Pädagogischen Diagnostik sind häufig Produkte der Wissenschaft. Vertre­ter/innen der Wissenschaftsdisziplinen beziehen während der Entwicklung zwar vielfach Prak­tiker/innen ein, um eine möglichst hohe Passung zwischen Bedürfnissen der Praxis und dem Produkt zu erreichen, aber dennoch folgen die Instrumente einer wissenschaftlichen Logik (Schreiner & Breit, 2019). Der Anspruch der inhaltlichen wie methodischen Exaktheit konkurriert letzten Endes mit der praktischen Umsetzung. Die Nutzung der Instrumente vollzieht sich häufig in der Praxis mit den ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten. So unterziehen sich Instrumente der Wissenschaft im Prozess der Nutzung einem Transformationsprozess. Daher bedarf es vorab eines gemeinsamen Aushandlungsprozesses zwischen wissenschaftlichen Ansprüchen und Pragmatik der praktischen Anwendung. [19]

Aus wissenschaftlicher Perspektive stehen die Hauptgütekriterien des quantitativen Paradig­mas oft an erster Stelle: die Objektivität, die Reliabilität und die Validität. Es geht also um die Fragen, ob das Instrument unabhängig vom Anwender/der Anwenderin ist, wie groß der Messfehler und wie genau damit das Ergebnis ist und ob das Instrumentarium überhaupt das misst, was es zu messen vorgibt. Praktiker/innen rücken hingegen vorwiegend die Machbarkeit in den Mittelpunkt des Interesses. [20]

Generell braucht es wechselseitig ein Bewusstsein für die Rahmenbedingungen und Anfor­derungen der Wissenschaft und der Praxis. So müssen Pädagoginnen und Pädagogen im Sinne des Gütekriteriums Objektivität dafür sensibilisiert werden, dass standardisierte Instruk­tionen und Prozesse Teil der Durchführung sind, ohne die eine gewinnbringende Interpretation nicht möglich ist, auf der anderen Seite braucht es entsprechendes Bewusstsein der Wissenschaftler/innen für die Notwendigkeit, die Verwendung solcher Instrumente in den päda­gogischen Alltag mit seinen spezifischen Rahmenbedingungen integrieren zu können. [21]

In Bezug auf die Reliabilität ist es erforderlich, dass Forscher/innen den Anspruch auf präzises Messen an die praktischen Gegebenheiten anpassen. Insbesondere bei Messungen auf Indivi­dualebene stellen sich hier große Herausforderungen. Welchen Messfehler nimmt man in Kauf? Wie aussagekräftig ist ein Ergebnis? Das ist ein technisch unlösbares Dilemma. Denn der ideale Präzisionsanspruch ist mit praktischen Rahmenbedingungen nicht vereinbar. Es führt unweiger­lich zur Frage, wie lange ein Kind Aufgaben bearbeiten kann, aber auch zur Frage, wie viel Zeit eine Pädagogin/ein Pädagoge mit diagnostischen Tätigkeiten verbringen soll. Gleichzeitig ist es allerdings unerlässlich, pädagogische Fachkräfte überhaupt für das Problem der Messgenauig­keit zu sensibilisieren, damit diese ihre Interpretationskompetenz weiterentwickeln können. [22]

Anforderungen an die Validität sind gemeinsam im Kontext der intendierten Anwendung eines Instruments abzustimmen und aufseiten der Praktiker/innen braucht es eine Bereitschaft zur Mitwirkung an der Validierung von Instrumenten. Das Austarieren zwischen dem Nutzen (z. B. den Interpretationsmöglichkeiten aufgrund der Gütekriterien) und den Kosten (z. B. dem Auf­wand zur Integration in das pädagogische Setting und für die Durchführung) ist im Grunde als laufende Optimierungsaufgabe zu sehen, die nur im Dialog zu bewältigen ist. [23]

Aus Sicht der Praxis sind häufig andere Kriterien relevant: An oberster Stelle steht die Frage nach dem Nutzen. Welchen Gewinn hat die Pädagogin/der Pädagoge bzw. das Kind von der Anwendung eines Verfahrens? Sind die daraus gewonnenen Erkenntnisse relevant für den pädagogischen Auftrag? Darüber thematisieren Praktiker/innen häufig die Frage der Mach­barkeit. Wie lässt es sich bewerkstelligen, ein Verfahren in den pädagogischen Alltag zu inte­grieren oder welche Rahmenbedingungen bedarf es, um eine Durchführung zu gewährleisten? Welche Ressourcen (personell, zeitlich, finanziell) sind aufzubringen? Und die Frage nach der Fairness wird aus der Praxis in die Diskussion eingebracht. [24]

Ein Beispiel zur Illustration:

Es geht um einen strukturierten Beobachtungsbogen zur Feststellung der Sprachkompetenz, welcher als BESK für Kinder mit Deutsch als Erstsprache und als BESK DaZ für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache vorliegt (Breit, 2011a, 2011b). BESK (DaZ) wird bei Kindern zwischen 4;6 bis 6;0 Jahren angewendet und bietet Einblick in den Sprachentwicklungsstand des Kindes in Deutsch zum Zeitpunkt der Beobachtung. [25]

Als Methode wird auf die Beobachtung gesetzt – und zwar auf Beobachtung der sprachlichen Fähigkeiten in alltäglichen Spiel- und Kommunikationssituationen. Es werden keine speziellen Aufgabenstellungen wie bei einem Test vorgegeben und auch kein spezielles Material ver­wendet, um bestimmte sprachliche Strukturen zu elizitieren. Aber der Beobachtungsbogen strukturiert insofern, als er das Augenmerk auf bestimmte Indikatoren der Deutschkompetenz vorgibt. Diese sind nach sprachlichen Ebenen systematisiert und theoriegeleitet entwickelt (Rössl, 2011). [26]

Wie ging man mit Güte- bzw. Qualitätskriterien um? Objektivität will man im Feld herstellen, indem die pädagogischen Fachkräfte in der Anwendung des Instruments geschult werden – bereits in der Ausbildung zur Fachkraft sowie durch entsprechende Fort- und Weiterbildung. Die Reliabilität will man sicherstellen, indem ein Beobachtungszeitraum von mindestens zwei Wochen für die Beobachtungen vorgegeben wird und von einer punktuellen Beobachtung oder Messung Abstand genommen wird. Hier sind in Hinblick auf Reliabilität schon allein aufgrund der Methode der Beobachtung und der gewählten Rating-Skalen Abstriche zu machen. Überein­stimmungen von Beobachtungen können bei entsprechendem Training hoch sein (mit Korre­lationen von .80 aufwärts), können jedoch auch wenig zufriedenstellend sein (.60 und darunter). Eine Studie zur Beurteilungsübereinstimmung liegt für dieses Verfahren leider nicht vor. Außerdem ist die Formulierung der einzelnen Indikatoren teilweilweise offen. Exemplarisch wäre hier beispielsweise der Bereich des Lexikons zu nennen, bei dem zwischen Basiswort­schatz und erweitertem Wortschatz differenziert wird, wobei es keine allgemeingültige Definition dafür gibt und mit empirischen Untersuchungen belegt ist, dass das Lexikon stark lebensweltlich geprägt ist. Hier kommt also das Ermessen der jeweiligen Beobachterin zum Tragen, ihre Strenge oder Milde wird sich im Ergebnis niederschlagen. In Hinblick auf die Validität wird auf die theoriegeleitete Auswahl der Indikatoren verwiesen sowie auf den Fokus jener Indikatoren, die sich empirisch als bedeutsam für die weitere Sprachentwicklung erwiesen haben und die sich pädagogisch beeinflussen lassen (Rössl, 2011). [27]

Für die pädagogische Fachkraft steht folgende Frage im Mittelpunkt: Was habe ich von der Anwendung des Beobachtungsbogens? Nach anfänglichem Widerstand, der sich mit „Was sollen wir denn noch alles machen?“ zusammenfassen ließe und intensiver fachlicher Professio­nalisierung (z. B. in Form von Lehrgängen im Umfang von 6 ECTS-Punkten) konnten die Pädagoginnen und Pädagogen zunehmend professioneller agieren und tatsächlich einen Nutzen daraus ziehen. O-Ton einer Pädagogin: „Ich nehme Sprache heute ganz anders wahr: sowohl die sprachlichen Äußerungen der Kinder als auch meine Sprachverwendung“. [28]

Beim Transfer war die Frage nach der praktischen Bewerkstelligung, sprich die Integration in den pädagogischen Alltag, wichtig. Beobachte ich jeden Tag ein anderes Kind oder beobachte ich mehrere Kinder an einem Tag nach demselben Kriterium? Zu welchen Zeiten sollte ich mich der Beobachtung widmen? Wo und wie notiere ich meine Beobachtungen? Wann übertrage ich meine Beobachtungen in den eigentlichen Bogen? Schaffe ich das allein bzw. wie kann mich die Assistentin freispielen? [29]

Für die Version 2 des Beobachtungsinstruments BESK-DaZ hatten die Autorinnen und Autoren damals entschieden, unterschiedliche Referenzprofile für Kinder mit einer Kontaktdauer bis zu 12 Monaten sowie für Kinder mit mehr als 12 Monaten zur Verfügung zu stellen. Mithilfe der Referenzprofile konnte ermittelt werden, ob die sprachliche Entwicklung dem DaZ-Erwerbsschema entspricht und alltagsintegrierte Sprachbildung ausreicht oder das Kind spezielle Sprachförderung im Kindergarten erhalten sollte. Für diesen Fall stellt der Bund unter bestimmten Rahmenbedingungen den neun Ländern Geldmittel zur Verfügung. [30]

Pädagogische Diagnostik und der Akteur Bildungsverwaltung

Das Fallbeispiel bringt zuletzt neben Wissenschaft und Praxis einen weiteren Akteur ins Spiel: Bildungsverwaltung bzw. Bildungspolitik treten häufig in Form des Auftraggebers bzw. der Auftraggeberin als dritter Akteur auf. Eine solche Konstellation führt zu neuen Dynamiken und Machtkonstellationen. [31]

Einer der einflussreichsten Ansätze unter den Analysten ist der Policy Cycle Approach nach Jann und Wegrich (2014), die den Politikprozess in diskrete und chronologische Phasen unter­teilen (siehe Abbildung 1). In dieser Logik wird ein Problem bzw. eine Themenstellung erkannt und danach werden Maßnahmen abgeleitet. Diese werden durch Richtlinien konkretisiert und legitimiert. Daraufhin hat eine Implementation zu erfolgen – im Idealfall wird dann auf Basis einer Evaluation entschieden, ob die Maßnahme weiter aufrecht bleibt, ob kein Bedarf mehr besteht oder eine andere Maßnahme nötig ist. [32]

Abbildung 1 zeigt den Politik-Zyklus in aufeinanderfolgenden Phasen: Zunächst wird ein „Problem definiert“ bzw. ein Handlungsbereich identifiziert. In der Phase „Agenda-Setting“ wird das Thema politisch aufgegriffen und anschließend werden in der Phase „Politikformulierung“ politische Maßnahmen abgeleitet und diese durch Richtlinien konkretisiert und legitimiert. Daraufhin erfolgt die Phase der „Implementierung“, auf welche die Phase der „Evaluierung“ folgt, bei der die Maßnahme bewertet wird. Darauf folgt entweder erneut die „Problem(re)definition“ oder zu gegebenem Zeitpunkt das Auslaufen der politischen Maßnahme („Politik-Terminierung“).
Abbildung 1: Der Politik-Zyklus (Jann & Wegrich, 2014, S. 106)

Auch wenn dieser Zyklus als „traditionell“ gilt, wird er in Österreich nach wie vor in dieser Form umgesetzt. Der Rechnungshof wies in den letzten Jahren jedoch regelmäßig darauf hin, dass eine Phase der Evaluation nicht zwingend vorgesehen ist und daher kaum stattgefunden hat (Rechnungshof, 2016a, 2016b). Daraufhin wurde die Notwendigkeit der Evaluation einer konkreten (schulischen) Sprachfördermaßnahmen beispielsweise in die Gesetzgebung aufgenommen (BGBl. I Nr. 56/2016; Abs. 4 des §8e SCHOG). Auch für einen solchen Schritt bedarf es ent­sprechender Instrumente und Verfahren. [33]

Die Logiken der Bildungsverwaltung- und -politik unterscheiden sich deutlich von jener der Wissenschaft. Die Politik benötigt rasch „Lösungen“ für soziale und bildungspolitische Heraus­forderungen bzw. Probleme. Zeit für die Erprobung eines Instruments und zur wissenschaft­lichen Absicherung ist oftmals nicht eingeplant und gegeben. Man will schnell Maßnahmen präsentieren und in die Umsetzung gehen. Ein Grund dafür ist die Kurzlebigkeit unserer politischen Perioden. Die Gesetzgebungsperiode auf Bundes- wie Landesebene liegt in Österreich bei fünf Jahren. Auf Bundesebene kam es jedoch in den letzten 20 Jahren häufig zu deutlich kürzeren Legislaturperioden1. Politik setzt daher wenig auf langfristige Projekte, son­dern schnelle Erfolge. Außerdem werden Qualitätsabstriche bewusst in Kauf genommen. Das Machtgefälle zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer kommt zum Ausdruck, indem wissen­schaftliche Argumente nicht ernst genommen und Aufträge unter ressourcenkritischen Rahmen­bedingungen erteilt werden. [34]

Ein Beispiel zur Illustration:

Beim sogenannten Bildungskompass war in Österreich angedacht, dass die Interessen, Poten­ziale und Lernstrategien eines jeden Kindes ab dem Alter von 3,5 Jahren einmal jährlich dargestellt werden sollten – und zwar auf Basis der fünf Lerndispositionen nach Margret Carr. Dies sollte neben Entwicklungs- und Sprachstandsdokumentationen und der Portfolio-Arbeit ein verpflichtender Baustein am Übergang vom Kindergarten in die Schule werden und dort fortgeführt werden (Charlotte-Bühler-Institut, 2018). Im Kindergartenjahr 2017/18 wurde der Bildungskompass in 50 Kindergartengruppen pilotiert. Der entsprechende Bericht inkl. Empfeh­lungen für die bundesweite Ausführung liegt vor (Charlotte-Bühler-Institut, 2018). Aufgrund der vorzeitigen Nationalratswahlen im Herbst 2017 und der veränderten Regierungs­konstellation ab Dezember 2018 (schwarz-blau statt rot-schwarz) wurde das Konzept jedoch nicht weiterverfolgt. [35]

Dabei gäbe es wissenschaftlich durchaus gesicherte Erkenntnisse zum Thema Implemen­tierung. Unter dem Titel „How to run a government so that citizens benefit and taxpayers don’t go crazy“ skizziert Barber (2015) ein Modell, das nicht auf einen Top-down-Ansatz der Implementierung zählt, sondern indem Ziele und Richtlinien aufgrund der Implementierung und der Erfahrungen, die dabei gemacht werden, weiter verfeinert und adaptiert werden (vgl. Abbildung 2). Dies geschieht in einer lernenden Haltung, bei der Ergebnisorientierung wichtig ist. [36]

Abbildung 2 zeigt das Modell einer idealtypischen Implementierung in Form eines Kreislaufes. Dabei wird zunächst von der Politik über Ziele entschieden und man beginnt mit der Umsetzung von Maßnahmen, wobei aufgrund der Erfahrungen die politischen Maßnahmen weiter verfeinert bzw. gegebenenfalls neugestaltet werden. Während der weiteren Implementierung erfährt man mehr über die Umsetzung und Wirkung der Maßnahme, was zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Maßnahme beitragen kann. Die permanente Weiterentwicklung durch eine lernende Haltung steht im Einklang mit Ergebnisorientierung. Schlussendlich schließt sich der Kreis und die Politik entscheidet erneut über Ziele.
Abbildung 2: Modell der Implementierung (Barber, 2015)

Auch die pädagogisch-psychologische Implementationsforschung zeigt auf, wie solche Pro­zesse gelingen könnten. Dieses Wissen – so Schober et al. (2019) – wird vonseiten der Politik jedoch vielfach nicht genutzt. [37]

Was bedeutet das nun im Kontext der Pädagogischen Diagnostik? Häufig legt die Bildungs­verwaltung fest, welche Instrumente verbindlich einzusetzen sind. Neben Standards, die der Bund oder die Länder festsetzen und deren Einhaltung sie mehr oder weniger kontrollieren, gibt es Instrumente, Verfahren und Methoden, die der jeweilige Träger vorgibt. Die jeweiligen Instrumente sind mehr vonseiten der Wissenschaft oder mehr vonseiten der Praxis geprägt. Und sie haben sich in der Praxis unterschiedlich bewährt. Für die pädagogische Fachkraft in der Praxis bleibt es zentrale und verantwortungsvolle Aufgabe ihrer Profession, zu den obligatorischen Instrumenten einen komplementären, stimmigen Kanon von Verfahren für ihr pädagogisches Handeln zusammenzustellen. [38]

Transfer im Kontext Pädagogischer Diagnostik

Das bringt mich abschließend noch einmal zum Praxisfeld zurück: Transfer bzw. Transformation ist komplex und die Bedingungen dafür im Praxisfeld sind heterogen. Mancherorts werden Instrumente Pädagogischer Diagnostik bloß implementiert, anderenorts hebt Pädagogische Diagnostik das Potential für Professionalisierung. Dies ist – so meine These – dann der Fall, wenn die Wissenschaft Unterstützung bei der Bewältigung „echter“ Probleme im Praxisfeld bereitstellt. [39]

Bei der Frage nach dem „Transfer“ handelt es sich in der Pädagogik um das sog. Theorie-Praxis-Problem (Altrichter, 2019; Wiesner & Schreiner, 2019). Die Nutzung wissenschaftlichen Wissens im Praxissystem erfordert eine aktive Veränderung dieses Wissens im Sinne der Logik des Praxissystems durch die dort Handelnden. Manche Autorinnen und Autoren betonen die Eigengesetzlichkeit des Aneignungsprozesses im Sinn einer Transformation oder Reinter­pretation. Als genau solche verstehe ich auch die „Anwendung“ von Instrumenten Pädago­gischer Diagnostik. Denn der Austausch zwischen dem System Wissenschaft und Praxis ver­läuft nicht automatisch, nicht durch einfache Ab- und Anleitungen oder durch direkte Intervention von einem System ins andere. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess, in dem aktiv Über­setzungsarbeit geleistet werden muss (Altrichter, 2019, S. 28). [40]

Gleichzeitig nehme ich wahr, dass an manchen Standorten Neuerungen implementiert werden, um der Implementierung willen, Maßnahmen oder Aktivitäten gesetzt, um Vorgaben zu erfüllen, um zu entsprechen. Eine reflektierte Auseinandersetzung mit Zielstellung und Intention, mit den Rahmenbedingungen vor Ort für die Realisierung oder und mit den fachlichen Anforderungen, die gestellt werden, passiert mancherorts kaum. „Wir füllen die Bögen halt aus so gut wir können“, damit das erledigt ist. [41]

An anderen Standorten führt die Verwendung eines Verfahrens der Pädagogischen Diagnostik zu einer Professionalisierung des pädagogischen Personals. Dies gelingt dann, wenn ein wissenschaftliches Instrument als Unterstützung wahrgenommen wird und nicht als Bevor­mundung (Schreiner & Breit, 2019, S. 184). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Instru­mente besonders zielsicher, einfach handhabbar, mit genauen Anleitungen zur Interpretation der Ergebnisse und Hilfestellungen in der Umsetzung der Ergebnisse in Fördermaßnahmen entwickelt wurden. Dies trifft beispielsweise auf MONDEY (Pauen, 2011) oder KOMPIK (Mayr, Bauer, Krause, & Irskens, 2011) zu. [42]

Pädagogische Diagnostik ist ein Gewinn, wenn also ein wissenschaftliches Produkt Hilfe­stellungen oder Lösungen für „echte“ Probleme im Praxisfeld bietet. Wenn sich die Anwen­der/innen der Instrumente in der Praxis also entlastet fühlen und einen Nutzen aus der Nutzung ziehen können. Zur Professionalisierung führen solche Instrumente dann, wenn sie zur fach­lichen Weiterentwicklung der Pädagoginnen und Pädagogen anregen, wenn sie die Vertiefung fachlicher Inhalte stimulieren, wenn sie anregen, die bisherige Praxis zu überdenken, wenn sie dazu auffordern, das eigene Handeln zu begründen. [43]

Nur eingeschränkt möglich, aber besonders gewinnbringend und zur Professionalisierung bei­tragend sind Kooperationen zwischen Wissenschaft und Praxis. Also Projekte, in denen Personen aus dem Wissenschaftsfeld und Praxisfeld gemeinsam arbeiten und sich auf Augen­höhe begegnen. Das könnte auch dazu beitragen, dass der Transfer-Problematik antizipierend und aktiv begegnet wird. Insbesondere auch dann, wenn es sich um Instrumente der Pädago­gischen Diagnostik handelt, die im Auftrag der Bildungsverwaltung oder -politik entwickelt werden. [44]

https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/geschichte/regierungen-seit-1945.html

Literatur

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Kontakt:

Simone Breit, Pädagogische Hochschule Niederösterreich, Department Elementarpädagogik, Mühlgasse 67, 2500 Baden/Wien, Österreich
E-Mail: simone.breit@ph-noe.ac.at

Zitation:

Breit, S. (2020). Pädagogische Diagnostik als Transfer-Herausforderung. Zum Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis unter Berücksichtigung von Bildungsadministration und -politik. QfI - Qualifizierung für Inklusion, 2(2), Sonderheft: Wissenstransfer, doi:

Eingereicht:

19.04.2020